Elfter Artikel. Nicht jeder Umstand, der das moralisch Gute oder moralisch Böse im Akte vermehrt, stellt für den betreffenden Akt die moralische Wesensstufe her.
a) Es scheint dies doch der Fall zu sein. Denn: I. „Gut“ und „Böse“ sind die Wesensunterschiede der moralischen Handlungen. Was also einen Unterschied macht im Charakter des Guten und Bösen der moralischen Handlung, das macht einen Wesensunterschied; es bewirkt also, daß die Wesensstufe der Handlung eine andere sei. Was aber die Güte oder Bosheit einer solchen Handlung vermehrt, macht an derselben einen Unterschied im Guten und Bösen. Also ist dieser Unterschied ein Wesensunterschied; und so stellt jeder Umstand, welcher das Gute oder Böse in einem Akte vermehrt, denselben auf eine besondere Wesensstufe. II. Der hinzutretende Umstand besitzt in sich entweder den Charakter des Guten, respektive des Schlechten; oder er besitzt ihn nicht. Im letzteren Falle kann er nichts Gutes oder Übels zum Akte hinzufügen. Im ersteren Falle muß der Umstand, eine besondere Wesensstufe des Guten oder Bösen einnehmen; also muß er auch eine besondere Wesensstufe des Guten oder Bösen durch sein Hinzutreten begründen. III. Nach Dionysius (4. de div. nom.) „wird das Übel verursacht von jedem einzelnen Mangel oder Fehler.“ Jeder Umstand aber, der dieBosheit vermehrt, schließt ein in sich einen besonderen Mangel. Also begründet jeder Umstand eine neue unterscheidende Gattung von Sünden. Und ebenso begründet jeder Umstand, der das Gute vermehrt, eine neue Gattung von Gutem, wie jede Einheit, die der Zahl hinzugefügt wird, eine neue Gattung Zahl, z. B. Dreiheit, Vierheit etc. verursacht. Denn das Gute besteht „in der Zahl, im Gewichte und im Maße.“ Auf der anderen Seite stellt das „Mehr“ und „Minder“ keine neue Wesensstufe her. „Mehr“ und „Minder“ aber ist ein Umstand, der das Gute oder das Böse vermehrt. Also nicht jeder Umstand, der zum Guten oder Bösen etwas hinzufügt, stellt den moralischen Akt in seinem Gattungswesen als gut oder böse hin.
b) Ich antworte, der Umstand verleihe die Wesensstufe im Guten und Bösen dem Akte, je nachdem ein solcher Umstand eine besondere Beziehung zur ordnenden Vernunft hat. Bisweilen aber trifft es sich, daß ein Umstand nur unter Voraussetzung eines andern Umstandes die Anordnung der Vernunft im Guten oder im Bösen berücksichtigt und daß von diesem letzteren Umstände der Akt seine Wesensstufe im Guten und Bösen hat. So z. B. berücksichtigt der Umstand, daß ich in großer oder in geringer Menge etwas an mich nehme, die Anordnung der Vernunft im Guten oder Bösen nur insofern als jene andere Bedingung vorausgesetzt wird, durch welche der betreffende Akt seine Wesensstufe einnimmt, nämlich daß das, was ich nehme, mir nicht gehört, mir fremd ist, denn dies gerade ist der Ordnung der Vernunft zuwiderlaufend. Fremdes Eigentum also in größerem oder kleinerem Umfange an sich nehmen macht keine Verschiedenheit in der Wesensstufe oder in der Gattung der Sünde, vermindert jedoch oder erschwert dieselbe; und ebenso ist es in anderen Fällen, mag es sich um Gutes oder Böses handeln. Also kann ganz wohl ein Umstand das Gute oder Böse vermehren, ohne eine besondere Wesensstufe oder Gattung zu begründen.
c) I. In allem dem, was ein Nachlassen oder ein erhöhtes Anspannen zuläßt, macht dieser Unterschied, daß das Betreffende bald lässiger ist bald mehr angespannt, keinen Unterschied im Wesen oder in der Gattung; wie z. B. was da verursacht, daß etwas mehr oder minder weiß ist, keinen neuen Wesensunterschied macht in der Farbe. Ebenso verhält es sich mit dem moralischen Guten, was bald lässiger sein kann bald eifriger, ohne daß damit eine Änderung in der Wesensstufe gegeben wäre. II. Ein Umstand, der die Sünde schwerer macht oder den Tugendgrad zu einem höheren, hat nicht immer an und für sich eine besondere Beziehung zur ordnenden Vernunft und somit nicht an sich betrachtet das moralische Gute oder Böse in sich; — sondern oft nur unter der Voraussetzung, daß ein anderer Umstand oder eine andere Seinsbedingung des Aktes vorhanden ist; wie das eben auseinandergesetzt worden. Ein solcher Umstand macht also keinen Wesensunterschied in den moralischen Handlungen. III. Nicht jeder Umstand ist an und für sich der Ausgangspunkt für einen besonderen Mangel; sondern oft nur deshalb weil er Beziehung hat zu etwas Anderem. Und ebenso fügt nicht jeder Umstand eine neue Vollendung zum Akte hinzu, sondern oft nur mit Rücksicht auf einen anderen Umstand. Und so kann ein solcher Umstand den betreffenden moralischen Charakter wohl vermehren und erhöhen; aber nicht ist damit immer eine besondere Wesensstufe oder Gattung verbunden.
