Kap. 19. Haben doch nicht einmal die gottgefälligen Gerechten des Alten Testaments durch ihre Fürbitte für das sündige Volk etwas zu erreichen vermocht.
Hat doch auch Mose für die Sünden des Volkes gebeten und dennoch für die Sündigen die erbetene Verzeihung nicht erlangt, „Ich bitte Dich, Herr“, sprach er, „dieses Volk hat eine große Sünde begangen [und sie haben sich goldene Götter gemacht]; und nun, wenn Du ihnen ihre Sünde vergibst, so vergib sie; wenn aber nicht, so tilge mich aus dem Buche, das Du geschrieben hast!“ Und der Herr sprach zu Moses: „Wenn einer vor mir gesündigt hat, den will ich aus meinem Buche tilgen“1 . Er, ein Freund Gottes, er, der oftmals von Angesicht zu Angesicht mit, dem Herrn gesprochen hat, vermochte seine Bitte nicht durchzusetzen, und es gelang ihm nicht, den Groll des zürnenden Gottes durch seine Fürbitte zu besänftigen. Den Jeremia lobt und rühmt Gott mit den Worten: „Ehe ich dich im Mutterleibe bildete, habe ich dich gekannt, und ehe du aus dem Mutterschoße hervorgingst, habe ich dich geheiligt und dich zum Propheten gesetzt für die Völker“2 . Und doch sprach er zu dem nämlichen, der gar häufig Fürbitte und Gebet für die Sünden des Volkes einlegte: „Bete nicht für dieses Volk und verlange nichts für sie in Bitten und Gebet; denn ich will nichts hören zu der Zeit, zu der sie mich anrufen, zu der Zeit ihrer Bedrängnis“3 . Wo gäbe es vollends einen Gerechteren als Noach, der damals, als die ganze Erde mit Sünden erfüllt war, allein auf Erden als gerecht befunden wurde? Wer wäre ruhmreicher als Daniel? Wer hätte in der Festigkeit des Glaubens mehr Kraft gezeigt, das Martyrium zu erdulden, wer wäre in der Gnade Gottes glücklicher gewesen als er, der so oftmals, wenn er kämpfte, den Sieg errang, und wenn er siegte, am Leben blieb? Wer wäre eifriger in S. 110 guten Werken als Ijob, wer wäre in Versuchungen stärker, geduldiger im Schmerze, demütiger in der Furcht, wahrhaftiger im Glauben als er? Und doch hat Gott erklärt, nicht einmal ihre Bitten wolle er erhören. Als der Prophet Ezechiel für die Sünde des Volkes um Vergebung flehte, sprach er: „Wenn sich irgendein Land gegen mich verfehlt, so daß es eine Sünde begeht, so will ich meine Hand über dieses [Land] ausstrecken und die Stütze des Brotes4 zermalmen, und ich will Hunger hineinschicken und Menschen und Vieh von ihm hinwegnehmen. Und wären auch jene drei Männer in seiner Mitte: Noach und Daniel und Ijob, so werden sie weder Söhne noch Töchter befreien, nur sie selbst sollen unversehrt bleiben“5 . So sehr beruht alles, um das man bittet, nicht etwa auf der vorgreifenden Einbildung des Bittenden, sondern vielmehr auf der Entscheidung des Gebers, und nichts darf menschliche Meinung sich anmaßen und für sich in Anspruch nehmen, wenn nicht auch der göttliche Wille seine Zustimmung gibt.
