[Vorwort]
Dieser von einem eigenartigen Hauch der Romantik durchwehte Brief verläßt den Schreiber in einer stark melancholischen Stimmung. Rom ist ihm verleidet. Deshalb sucht er Marcella zu bestimmen, zusammen mit ihm Rom zu verlassen und in der Einsamkeit des Landlebens in klösterlicher Zurückgezogenheit zu leben. Selbst den Kreis der aszetischen Matronen, deren Seelenführer und Lehrmeister er war, will er preisgeben. Darin liegt allerdings noch keine Bestätigung für Grützmachers Meinung, daß die gebotene Sittenschilderung sich gerade auf diesen Kreis bezieht, 1 mochten ihm auch gewisse Enttäuschungen nicht erspart geblieben sein. Diese ist vielmehr allgemein menschlich gehalten, und stellenweise schließt sich Hieronymus selbst mit ein.
Wir kennen nur eine Epoche während des römischen Aufenthaltes, in welche sich eine solche niedergedrückte Stimmung zwanglos einfügen läßt. Es ist die Zeit unmittelbar nach Damasus’ Tode, in der Hieronymus Gegenstand vielfacher Anfechtungen war. Ich fasse den Brief auf als einen Versuch, Rom zu verlassen, ohne allzu weit von der Hauptstadt entfernt zu sein, um die S. 46 weitere Entwicklung der Dinge abzuwarten. Der Brief dürfte also ins Jahr 385 zu verlegen sein. Rauschens Versuch, ihn der ersten Zeit des römischen Aufenthaltes zuzuweisen, ist als gescheitert zu betrachten. 2 Eine andere Auffassung, die den Brief als eine von Bethlehem aus an Marcella gerichtete Aufforderung, Rom zu verlassen und sich auf das stille Land zurückzuziehen, beurteilen will, wird der starken persönlichen Note des Briefes in keiner Weise gerecht. 3 Auch bietet der Text keinerlei Handhabe für eine derartige Vermutung. Dasselbe gilt von Pronbergers Meinung, der Brief enthalte eine Einladung, zu ihm nach Bethlehem zu kommen. 4
