Siebenter Artikel. Die Glaubensartikel nehmen an Zahl zu im Verlaufe der Zeit.
a) Dies scheint nicht.Denn: I. Nach Hebr. 2. ist „der Glaube die Grundlage der zu hoffenden Dinge.“ Zu jeder Zeit aber ist das Nämliche zu hoffen. II. In den menschlichen Wissenschaften hat in der Aufeinanderfolge der Zeiten eine Zunahme stattgefunden wegen des Mangels an Wissen in jenen, welche zuerst die betreffenden Wissenschaften erfunden haben. (2 Metaph.) Die Glaubenslehre aber kommt von Gott; „denn sie ist Gottes Geschenk“ Ephes. 2. Also war sie von Anfang an vollkommen und nahm im Verlaufe der Zeit nicht zu. III. Das Wirken der Natur beginnt immer vom Vollkommenen, wie Boëtius sagt. (3. de consol. pros. 10.) Also um so mehr begann das Wirken der Gnade vom Vollkommenen, so daß jene, die den Glauben zuerst lehrten, ihn in höchst vollkommener Weise kannten. IV. Wie zu uns der Glaube Christi vermittelst der Apostel gelangte, so kam im Alten Testamente die Kenntnis des Glaubens von den älteren Vätern zu den späteren: „Frage deinen Vater; und er wird es dir künden.“ Die Apostel aber waren in höchst vollkommener Weise über die Geheimnisse unterrichtet. Denn „sowie der Zeit nach früher, so empfingen sie auch in größerer Vollendung wie die übrigen“ sagt die Glosse zu Röm. 8.: „Wir selbst haben die Erstlinge des Geistes.“ Also nahm die Kenntnis des zu Glaubenden mit der Zeit nicht zu. Auf der anderen Seite schreibt Gregor (hom. 16. in Ezech.) und Hugo von St. Viktor (1. de sacram. art. 10): „Gemäß der Zunahme der Zeiten nahm zu die Wissenschaft der heiligen Väter“… und: „Je näher sie der Ankunft des Heilandes standen, desto vollkommener haben sie die Sakramente des Heils in sich aufgenommen.“
b) Ich antworte; die Glaubensartikel sind in der Glaubenslehre das, was die durch sich selber bekannten Principien für die natürliche Vernunft sind. Darin wird nun eine gewisse Ordnung gefunden, daß nämlich einzelne solcher Principien in den anderen miteingeschlossen sind. So werden z. B. alle solche Principien auf dieses Grundprincip zurückgeführt: „Unmöglich ist es, das durchaus Nämliche zugleich zu behaupten und zu verneinen.“ In dieser Weise sind auch alle Glaubensartikel nach Hebr. 11. eingeschlossen in diesen beiden „zu glauben, daß Gott ist; und daß Er denen, die Ihn suchen, der Belohner ist“ d. h. Sorge trägt für das Heil der Menschen. Denn im „Sein“ Gottes ist Alles eingeschlossen, was wir als in Gott von Ewigkeit existierend glauben, worin also unsere Seligkeit besteht. Im Glauben aber an die Vorsehung ist Alles eingeschlossen, was von Gott zum Heile der Menschen ausgeht, was also der Weg zur Seligkeit ist. Und ähnlich sind wieder in den einen Artikeln andere enthalten, wie im Glauben an die Erlösung eingeschlossen ist der an die Menschwerdung Christi, an sein Leiden etc. Soweit also es die Substanz oder den Inhalt der Artikel angeht, ist keine Zunahme anzuerkennen im Verlaufe der Zeit; denn was die Späteren ausdrücklich bekannten, war enthalten bereits in dem Glauben der Väter. Aber mit Rücksicht auf die ausdrückliche Erklärung des zu Glaubenden wuchs die Zahl der Artlkel; denn was von den Späteren mit ausdrücklichen Worten geglaubt wurde, ward nicht von den Vätern mit ausdrücklichen Worten vorgestellt. Deshalb sagt der Herr zu Moses (Exod. 6.): „Ich bin der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs und meinen Namen Adonai habe ich ihnen nicht angezeigt.“ Und David sagt (Ps. 118): „Mehr als die Alten habe ich verstanden.“ Ebenso der Apostel (Ephes. 3.): „In den anderen Geschlechtern ward nicht gekannt das Geheimnis Christi, wie es jetzt den heiligen Aposteln und den Propheten offenbar geworden.“
c) I. Das zu Hoffende war immer dasselbe. Da es aber nur durch Christum erreicht werden konnte, so waren die Menschen um so weiter entfernt von dessen Erreichung, je weiter sie der Zeit nach von Christo entfernt waren. Deshalb sagt Paulus (Hebr. 11.): „Gemäß dem Glauben sind diese alle verschieden; die Erfüllung der Verheißung ist ihnen nicht geworden, sondern von weitem schauten sie auf dieselbe.“ Je weiter aber etwas entfernt ist, desto unbestimmter wird es gesehen; und deshalb erkannten bestimmter und ausdrücklicher das durch Christum zu Hoffende jene, die Christo näher standen. II. Ein Fortschreiten in der Kenntnis findet 1. statt von seiten des Lehrenden (sei dies einer oder seien es mehrere), der in der Erkenntnis im Laufe der Zeit fortschreitet; und diese Zunahme findet statt in den menschlichen Wissenschaften; — 2. von seiten des Lernenden, dem der Lehrer nicht gleich im Beginne die ganze Kenntnis mitteilt, sondern gemäß der Fassungskraft desselben nach und nach; und so schritten die Menschen fort im Laufe der Zeiten in der Kenntnis des Glaubens. Deshalb vergleicht der Apostel (Gal. 3.) den Stand des Alten Testamentes mit der Kindheit. III. Die einwirkende Ursache und der Stoff werden für die Erzeugung erfordert. Gemäß der Ordnung in den wirkenden Ursachen nun ist der Natur nach früher was vollendeter ist; und so nimmt die Natur vom Vollkommenen her ihren Anfang, denn Unvollkommenes wird zur Vollendung geleitet nur durch vorherbestehendes Vollendete. Gemäß der Ordnung aber, wie sie dem Stoffe als der Materialursache zukommt, ist früher das Unvollkommene; und danach geht die Natur vom Unvollkommenen zum Vollkommenen. Nun ist im Bereiche des Glaubens Gott, das vollendete Wissen, wie wirkende Ursache; und der Mensch ist da wie der das Einwirken Gottes aufnehmende Stoff. Also mußte vom Unvollkommenen zum Vollendeten hin fortschreiten die Kenntnis des Glaubens. Und obgleich unter den Menschen immer einzelne waren in der Weise der wirkenden Ursache, denn sie waren Lehrer des Glaubens, so wird doch die Offenbarung des Geistes gegeben zum gemeinsamen Besten, wie es 1. Kor. 12. heißt. Danach also wurde den alten Vätern so viel Glaubenskenntnis gegeben, wie viel notwendig war, für jene Zeit dem Volke zu lehren; sei es nackt und offen sei es in Figuren. IV. Die letzte Vollendung der Gnade vollzog sich durch Christum, wonach seine Zeit auch „die Fülle der Zeiten“ genannt wird. Wer also Christo näher stand, sei es vorher, wie Johannes der Täufer, sei es nachher, wie die Apostel, haben in höherem Grade teilgenommen an dieser Fülle. So hat auch der Mensch um so mehr Kraft, je näher er der Jugend steht, wo er in der Vollendung ist.
