Zweiter Artikel. Die sieben Arten Almosen werden zulässigerweise unterschieden.
a) Die sieben Werke des Almosengebens sind nicht gut voneinander unterschieden, soweit es auf den Körper ankommt; nämlich: „Den Hungrigen speisen, dem Durstigen zu trinken geben, den Nackten kleiden, den Fremden beherbergen, den Kranken besuchen, den Gefangenen loskaufen, den Toten begraben.“ Dasselbe gilt von den geistigen Werken der Barmherzigkeit: „Die Unwissenden belehren, den Zweifelnden raten, die Traurigen trösten, die Sünder bessern, den Beleidigern verzeihen, die Gedrückten erleichtern und für alle beten.“ Diese ganze Einteilung ist nicht zulässig. Denn: I. Almosen geben heißt dem Mangel des Nächsten abhelfen. Das Totenbegraben aber hilft dem Mangel niemandens ab. Sonst wäre es nicht wahr, was der Herr sagt (Matth. 10.): „Fürchtet nicht jene, welche den Leib töten und nachher nicht mehr haben, was sie Weiteres thun könnten.“ Auch erwähnt der Herr Matth. 25. unter den Werken der Barmherzigkeit, die Er da aufzählt, nicht das Begraben der Toten. II. Viele andere Bedürfnisse des menschlichen Lebens giebt es noch, um beizustehen, wie die genannten; z. B. bedarf der Blinde eines Führers, der Lahme einer Stütze etc. III. Bessern den Sünder heißt: ihn züchtigen; das aber gehört viel mehr zur Strenge wie zur Barmherzigkeit. IV. Jeder Mensch hat Mangel an Wissen. Also müßte jeder jeden belehren in dem, worin der eine in Unwissenheit ist rücksichtlich des anderen. Auf der anderen Seite sagt Gregor (hom. 9. in Evgl.): „Der Verständnis hat, soll Sorge tragen, daß er nicht schweige; der Überfluß an zeitlichen Gütern besitzt, soll wachen, daß er in den Werken der Barmherzigkeit nicht erlahme; der eine Kunst oder eine Wissenschaft hat, soll sich sehr Mühe geben, daß er den Nutzen derselben mit dem Nächsten teile; der beim Reichen Fürbitte einlegen kann, soll fürchten, verdammt zu werden wegen des vergrabenen Talentes, wenn er nach Vermögen nicht dem Armen beim Reichen beisteht.“ Vorstehende Arten Almosen werden also zulässigerweise unterschieden nach dem, worin die Menschen Überfluß haben und Mangel.
b) Ich antworte, der körperliche Mangel im Mitmenschen mache sich geltend entweder im Leben oder nach dem Tode. Während des Lebens ist ein solcher Mangel entweder rücksichtlich dessen, was alle bedürfen oder mit Grund auf ein besonderes Leid. In der ersten Weise ist der Mangel innerlich oder äußerlich. Der innere Mangel ist Mangel an trockener Nahrung — und danach steht: „speisen den Hungrigen;“ oder es ist Mangel am notwendigen Getränk — und danach steht: „zu trinken geben dem durstigen.“ Der äußere Mangel ist Mangel an Kleidung — und danach steht: „kleiden den nackten;“ oder Mangel an einer Wohnung — und danach steht: „beherbergen den fremden.“ Ein besonderes Leid aber kommt ebenso entweder von einer inneren Ursache — und danach steht: „den kranken besuchen;“ oder von einer äußeren Ursache — und danach steht: „den gefangenen loskaufen.“ Nach dem Tode verleiht man das „Begräbnis.“ Gegen den geistigen Mangel aber betet man zuvörderst zu Gott um Hilfe — und danach steht: „für alle beten.“ Dann wendet man menschliche Hilfe auf; und zwar
a) gegen den Mangel an Verständnis — danach steht: „die unwissenden belehren,“ soweit es sich um reines spekulatives Wissen handelt: „den zweifelnden raten,“ soweit die Richtschnur des praktischen Lebens in Betracht gezogen wird; —
b) gegen den Mangel, der aus der Leidenschaft des begehrenden Teiles herrührt — danach steht die Abhilfe gegen den größten Mangel, die Trauer: „die trauernden trösten;“ —
c) gegen den Mangel geordneter Thätigkeit und zwar von seiten des Sünders selber auf Grund seines ungeordneten Willens — danach steht: „die Sünder bessern;“ oder von seiten dessen, gegen den gesündigt ward — danach steht: „den Beleidigern verzeihen;“ oder endlich von seiten dessen, was aus der Sünde folgt, wodurch die mit ihm zusammenlebenden beschwert werden — danach steht: „die (von der Sünde) gedrückten ertragen.“ Letzteres ist besonders zu empfehlen, wenn die Sünde in der menschlichen Schwäche ihren Grund hat, nach Röm. 15.: „Wir, die wir stärker sind, müssen die Schwächen der anderen ertragen;“ und Gal. 6.: „Der eine soll die Lasten des anderen tragen.“
c) I. Mit Rücksicht auf das sinnliche Empfinden nützt das Begräbnis dem Toten nichts; und deshalb erwähnt der Herr dieses gute Werk nicht, da Er nur die von augenscheinlichster Notwendigkeit diktierten Werke aufzählen will. Das Begräbnis geht aber wohl den toten an mit Rücksicht auf das Andenken der Menschen, unter denen er gelebt und mit Rücksicht auf die Hinneigung, die er während des Lebens zu seinem Körper hatte und der die überlebenden Rechnung tragen müssen. Deshalb wird Tobias auf Grund dieses Werkes gelobt. (Vgl. Aug. de cura pro mortuis habda 3.) II. Blind- oder Lahmsein sind Krankheiten. Dem Menschen gegen irgendwelche Bedrückung zu Hilfe kommen gehört zur Loskaufung der Gefangenen. Dem armen Geld geben ist immer nützlich für die Hebung von den erwähnten Mängeln. Alle anderen Bedürfnisse und Mängel also lassen sich auf die genannten sieben zurückführen. III. Die Züchtigung der Sünder ist mit Rücksicht auf den betreffenden Akt selbst zur Strenge der Gerechtigkeit zugehörig; mit Rücksicht auf die Absicht des Bessernden ist es Barmherzigkeit, nach Prov. 27.: „Besser sind die Wunden, welche der liebende schlägt, wie die täuschenden Küsse dessen, der haßt.“ IV. Als Mangel wird angerechnet nicht jede Unkenntnis, sondern die Unkenntnis dessen, was jemand wissen soll; und diesem Mangel durch Belehrung abhelfen ist Barmherzigkeit. Dabei sind natürlich die gebührenden Umstände nach Zeit, Ort und Person zu beachten wie bei jeder Tugend.
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