Neunter Artikel. Den nahestehenden muß man eher Almosen geben.
a) Dagegen fpricht: I. Ekkll. 12. heißt es: „Gieb dem armseligen und nimm nicht den Sünder auf … thue Gutes dem demütigen und nicht dem gottlosen.“ Manchmal aber sind die nahestehenden gottlos. II. Man soll Almosen geben um des himmlischen Lohnes willen, nach Matth. 6.: „Und dein Vater, der in das Verborgene sieht, wird dir vergelten.“ Da muß man aber an erster Stelle den Heiligen geben, nach Augustin zu Luk. 16, 9. Facite vobis amicos (l. c.): „Wer wird haben die ewigen Wohnungen? Doch nur die Heiligen Gottes. Und wer sind jene, die von ihnen aufgenommen werden sollen in die ewigen Hütten? Doch nur jene, welche ihren Bedürfnissen dienen.“ III. Der Mensch ist am meisten sich selbst nahestehend. Aber sich selbst kann er kein Almosen geben. Also ist das Nahestehen kein Grund, um Almosen zu geben. Auf der anderen Seite sagt der Apostel (1. Tim. 5.): „Wenn jemand für die Seinigen und vorzugsweise für die Glieder seiner Familie keine Sorge trägt, der hat den Glauben verleugnet und ist schlimmer wie ein Ungläubiger.“
b) Ich antworte, nach Augustin (1. de doctr. christ. 28.) „sollen wir den nahestehenden, mit denen uns gewissermaßen nach Gottes Vorsehung das gleiche Los verknüpft, auch die meiste Sorge angedeihen lassen.“ Doch muß man hier Rücksicht nehmen auf den Grad der Verbindung, auf die Heiligkeit und auf den Nutzen. Denn einem Menschen, der bei weitem heiliger ist und mehr Not leidet; und einem anderen, der für das Gemeinbeste mehr Nutzen bietet, muß man eher Almosen geben wie einer blutsverwandten Person, zumal wenn sie nicht nahe verwandt ist und die Sorge für sie keine Pflicht für uns bildet und sie nicht arg Not leidet.
c) I. Dem Sünder soll man nicht helfen, um ihn in seiner Sünde zu stärken. II. Zuvörderst führt das Almosen zum ewigen Lohne infolge der Wurzel der Liebe; und danach ist es verdienstlich, wenn die Ordnung der Liebe gewahrt bleibt und den nahestehenden in erster Linie gegeben wird. Deshalb sagt Ambrosius (1. de offic. 30.): „Jene Freigebigkeit ist zu billigen, daß du den blutsverwandten nicht verachtest, wenn du ihn darben siehst; denn besser ist es, daß du den deinigen beistehst, denen es Scham bereitet, wenn sie von anderen Hilfe erflehen müssen.“ Dann verdient das Almosen den ewigen Lohn infolge des Verdienstes desjenigen, dem gegeben wird, denn dieser betet für seinen Wohlthäter; und danach spricht Augustin III. Sich selber kann der Mensch kein Almosen geben; außer etwa in dem Falle daß jemand Austeiler von Almosen ist. Er kann dann, ist er selber ebenfalls in Not, in demselben Maße sich bedenken wie die anderen.
