Zweiter Artikel. Die Verpflichtung der Ordensperson mit Rücksicht auf die geistigen Räte.
a) Jede Ordensperson ist gehalten, alle Räte zu beobachten. Denn: I. Zum Stande der Vollkommenheit gehören alle geistigen Räte. Wer also zum Stande der Vollkommenheit sich verpflichtet, muß alle geistigen Räte beobachten. II. Gregor sagt (hom. 20. in Ezech.): „Jener, der die Welt verläßt und alles das thut, was er Gutes thun kann, der bringt, nachdem er Ägypten bereits verlassen, Gott in der Wüste Opfer dar.“ Die Welt verlassen aber gerade die Ordensleute. Also geht es sie insbesondere an, alles Gute zu thun, was sie vermögen, und somit alle geistigen Räte zu be obachten. III. Dürfte die Ordensperson nur einzelne Räte befolgen, so wäre sie nicht in einer von den Weltleuten verschiedenen Lage, von denen ja auch sehr viele mancherlei Räte beobachten wie z. B. den der Enthaltsamkeit. Also muß die Ordensperson, damit sie im Stande der Vollkommenheit sei, alle Räte beobachten, d. h. Alles, was sich auf die Vollkommenheit bezieht. Auf der anderen Seite ist jeder zu den nicht gebotenen Werken nur durch die eigene Verpflichtung gehalten. Also nicht jede Ordensperson braucht sich zu allem Guten zu verpflichten, sondern die eine zu dem die andere zu jenem besonderen Guten.
b) Ich antworte, zur Vollkommenheit gehöre etwas 1. dem Wesen nach; und so gehört dazu die vollkommene Beobachtung der Gebote der Liebe; — 2. als daraus folgend; wie z. B. den zu segnen, der verflucht oder Ähnliches, was aus der Liebe folgt und zwar als geboten gemäß der inneren Bereitwilligkeit, es thatsächlich zu thun, sobald die Notwendigkeit es erheischt, als geraten und hervorgehend aus überfließender Liebe, auch abgesehen von solcher Notwendigkeit; — 3. als Werkzeug und Mittel zur Vollkommenheit, wie die Armut, die Enthaltsamkeit, das Fasten etc. Die Vollkommenheit der Liebe aber ist der Zweck des Ordensstandes, während der Ordensstand selber eine gewisse Übung ist, ein Weg, um zur Vollkommenheit zu gelangen. Nun kann man aber vermittelst verschiedener Übungen zur Vollkommenheit gelangen, wie der Arzt zum Zwecke der Heilung sich verschiedener Medizinen bedienen kann. Wer also in den Ordensstand tritt, der ist 1. nicht gehalten, den Zweck des Ordensstandes, die vollkommene Liebe, bereits zu haben; er muß sich aber bestreben und sich üben, daß er zur vollkommenen Liebe gelange. Ebenso ist er 2. nicht gehalten, das bereits zu besitzen, was aus der Vollendung der Liebe folgt; er darf es aber nicht verachten, sondern er muß die ernste Absicht haben, zu solchem Besitze zu gelangen. Schliehlich ist er 3. nicht gehalten, alle Übungen zu übernehmen, vermittelst deren man zur Vollkommenheit gelangen kann, sondern nur jene, zu welchen die betreffende Ordensregel verpflichtet.
c) I. Wer in den Ordensstand tritt, sagt damit nicht, er sei vollkommen, sondern er wolle sich bemühen, es zu werden; wie jener, der Schulen besucht, damit nicht sagt, er wisse das Betreffende schon, sondern, er wolle es erlernen. „Deshalb,“ so Augustin (8. de civ. Dei 3.), „wollte Pythagoras nicht weise genannt werden, sondern ein Liebhaber der Weisheit.“ Nur also wenn die Ordensperson es verschmäht, vollkommen zu werden, fehlt sie gegen ihren Stand; nicht wenn sie noch unvollkommen ist. II. Wie jeder den Herrn unseren Gott gemäß dem Gebote von ganzem Herzen lieben muß, es aber eine solche Liebe giebt, welche ohne schwere Sünde nicht beiseite gelassen werden darf, und auch eine solche Liebe, welche ohne schwere Sünde ganz wohl beiseite gelassen werden darf, wenn nur keine Verachtung damit verbunden ist (Kap. 184, Art. 2 ad III.); — so sind alle, sowohl Welt- wie Ordensleute, in gewisser Weise gehalten, zu thun, was Gutes sie thun können; denn allen wird gesagt Ekkle. 9.: „Was auch immer deine Hand thun kann, das thue mit Eifer.“ Es giebt aber eine gewisse Art und Weise, dieses Gebot zu erfüllen, wodurch die schwere Sünde vermieden wird, insofern nämlich der Mensch thut, was er gemäß seinen Verhältnissen thun muß; wenn nur nicht damit die Verachtung des Besseren verbunden ist, wodurch der Geist sich hartnäckig weigert, weiter im Guten fortzuschreiten. III. Es giebt einzelne geistige Räte, ohne deren Erfüllung das ganze Leben des Menschen in weltliche Angelegenheiten sich verliert; wie wenn ein Mensch heiratet, eigenen Besitz hat etc. Zu dergleichen Räten also sind sämtliche Ordensleute verpflichtet, da deren Leben von den weltlichen Angelegenheiten in etwa getrennt sein soll. Andere geistige Räte aber, welche einzelne besondere bessere Güter betreffen, können beiseite gelassen werden, ohne daß gerade das Leben des Menschen in weltlichen Dingen ganz verläuft. Zu dergleichen Räten sind nicht die Ordensleute als solche verpflichtet.
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