Sechster Artikel. Die Armut, der Gehorsam und die Keuschheit zusammen müssen im Ordensstande gelobt werden.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Christus sagt bei Matth. 19. nur: „Wenn du willst vollkommen sein, so gehe hin…“ Er erwähnt gar keines Gelübdes. II. Das Gelübde ist ein Versprechen, nach Ekkle. 5.: „Hast du etwas gelobt, so zögere nicht, es zu halten; denn es mihfällt Gott das treulose und thörichte Versprechen.“ Im Orden aber wird die Sache selbst dargeboten, nämlich das äußere Gut, der Wille etc. Also bedarf es da keines Versprechens. III. Augustin sagt (de adulteriis conjug. lib. 1, cap. 14.): „Das wird bei uns als annehmbarer betrachtet, was wir nicht zu geben brauchen und was wir trotzdem aus Liebe geben.“ Also ist es Gott angenehmer, wenn jemand Gehorsam, Armut, Keuschheit Gott darbietet, ohne es durch das Gelübde gebunden thun zu müssen. Auf der anderen Seite wurden im Alten Testamente die Nazaräer durch ein Gelübde geweiht, nach Num. 6.: „Ein Mann oder eine Frau, wenn sie ein Gelübde gemacht haben, damit sie geheiligt werden und sich dem Herrn weihen wollen …“ Durch diese aber werden jene bezeichnet, „welche zur Spitze der Vollkommenheit gelangen,“ sagt Gregor. (2. moral. 26.)
b) Ich antworte, die Ordensleute seien im Stande der Vollkommenheit. Dazu aber gehört sich eine Verpflichtung zu dem, was zur Vollkommenheit notwendig ist; und diese Verpflichtung vollzieht sich durch das Gelübde. Nun gehört zur Vollkommenheit des christlichen Lebens die Armut, die Keuschheit und der Gehorsam. Also verlangt der Ordensstand, daß jemand sich zu diesen drei Dingen durch Gelübde verpflichtet. Deshalb sagt Gregor (20. in Ezech.): „Wenn jemand, was er hat, was er lebt, was ihm gefällt dem allmächtigen Gott gelobt, so ist dies ein ganzes volles Opfer, ein holocaustum;“ was jene angeht, welche die Welt verlassen haben.
c) I. Christus verlangt, daß, wer vollkommen sein will, ihm folge; und zwar nicht irgendwie, sondern so, daß „er nicht mehr zurücksehe,“ nach Luk. 9, 62. Und so antwortet auch Petrus im Namen der anderen, als einige Jünger sich vom Herrn entfernt hatten, auf die Frage des Herrn: „Wollt auch ihr fortgehen?“ „Herr! zu wem sollen wir gehen?“ Und Augustinus schreibt (2. de consol. Evgl. 17.): „Wie Matthäus und Markus berichten, haben Petrus und Andreas ihre Schiffe nicht ans Land gezogen, gleichsam um wieder zurückzukehren, sondern sie sind Ihm einfach gefolgt, da Er befahl, daß sie Ihm folgten.“ Dieses Beharrliche, Unverrückbare aber in der Nachfolge Christi wird durch das Gelübde ausgedrückt. II. Die Vollkommenheit verlangt, daß der Mensch „was er lebt“ (Gregor s. ob.), also sein ganzes Leben Gott weiht. Das kann er aber nicht thatsächlich auf einmal Gott darbringen; denn das ganze Leben wird nicht zugleich, in einem Augenblicke, gelebt, sondern verfließt nach und nach. Also kann er sein ganzes Leben Gott opfern nur durch das in einem Gelübde enthaltene Versprechen. III. Den freien Willen können wir unter Anderem auch geben oder nicht geben. Wer also durch freiwilliges Gelübde sich die Freiheit entzieht, sich dessen zu enthalten, was zum Dienste Gottes gehört, der thut ein Gott sehr angenehmes Werk; denn er giebt das dem Menschen Teuerste Gott, während er es nicht notwendig hat, es zu geben. Deshalb sagt Augusün (ep. 127.): „Es reue dich nicht, ein Gelübde gethan zu haben; vielmehr freue dich, daß dir nun nicht weiter freisteht, was nur zu deinem eigenen Nachteile dir freigestanden hätte. O glückliche Notwendigkeit, die dich zum Besseren antreibt!“
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