Neunter Artikel. Nicht jede Überschreitung einer Ordensregel ist für die Ordensperson eine Todsünde.
a) Das scheint aber. Denn: I. Handeln gegen das Gelübde ist verdammenswert, nach 1. Tim. 5, 8. Die Ordensleute aber sind durch Gelübde an die Ordensregel gebunden. II. Die Regel ist wie ein Gesetz für die Ordensperson. Ein Gebot aber überschreiten ist Todsünde. III. Die Verachtung führt zur Todsünde. Wer aber häufig eine Ordensvorschrift übertritt, scheint selbige zu verachten. Also ist da Todsünde. Auf der anderen Seite bietet der Ordensstand mehr Sicherheit wie das Leben in der Welt, so daß Gregor (ad Leandrum. ep. in princ. moral. c. 1.) das Weltleben mit den Fluten des Meeres vergleicht, das Ordensleben mit dem stillen Hafen. Wäre aber die Übertretung jeder Vorschrift schwere Sünde, so würde bei der Menge solcher Vorschriften im Orden das Leben sehr gefahrvoll sein.
b) Ich antworte, der Zweck der Ordensregel und was dazu gehört, also Alles was sich auf die Tugendakte bezieht, verpflichte unter Todsünde, sobald es sich um das handelt, was gemeinhin unter das Gebot fällt; handelt es sich aber um das, was die allgemeine Verpflichtung übersteigt, so verpflichte auch dieses nicht zur Todsünde, da ja der Ordensmann nur gehalten ist, nach der Vollkommenheit zu streben und nicht, vollkommen zu sein; nur wenn mit der Übertretung sonach Verachtung verbunden ist, tritt auch da Todsünde ein. Die äußere Übung aber und was dazu gehört verpflichtet unter Todsünde, sobald es sich um die drei Gelübde selbst handelt. Handelt es sich aber nur um das, was darauf Bezug hat, so ist da keine Todsünde; außer wenn Verachtung der Regel damit verbunden ist, deren Beobachtung man gelobt hat oder wenn der Obere ausdrücklich das Betreffende unter Gehorsam vorgeschrieben.
c) I. Wer in den Ordensstand eintritt, macht nicht das Gelübde, alles Einzelne zu beobachten, was in der Regel enthalten ist; sondern er gelobt, ein Ordensleben zu führen, wie ein solches die drei wesentlichen Gelübde einschließen. Demnach macht man vorsichtigerweise in einigen Orden das Gelübde, nicht so sehr eine Regel zu beobachten, sondern gemäß der Regel zu leben, d. h. danach zu streben, seine Sitten nach der Richtschnur der Regel einzurichten; und dies wird ausgeschlossen allein durch die Verachtung. In anderen Orden aber gelobt man, noch vorsichtiger, Gehorsam gemäß der Regel, so daß nur dann eine Todsünde da ist, wenn eine ausdrücklich unter Gehorsam verpflichtende Vorschrift verletzt wird; nicht aber, wenn Anderes übersehen oder übertreten wird. Denn solches Andere dient nur dazu, zur Beobachtung des Hauptsächlichen den Geist vorzubereiten, wie ja auch die läßliche Sünde vorbereitet zur Todsünde. Im Predigerorden aber ist eine solche Übertretung wie die letztgenannte auch keine läß liche Sünde, sondern verdient bloß die in den Regeln vorgesehene Strafe; es kann da freilich Sünde sein, aber nur auf Grund der Nachlässigkeit, der Verachtung, oder der ungeregelten Begierde. II. Nicht alle Vorschriften eines Gesetzes werden gerade als Vorschrift hingestellt; sondern oft nur als gewisse Weisungen, die zur bestimmten Strafe verpflichten. So verpflichten im bürgerlichen Gesetze nicht alle Vorschriften unter Todesstrafe; im kirchlichen nicht alle unter Todsünde. III. Wer sich weigert, der Regel zu folgen, und deshalb die einzelne Uebertretung sich zu Schulden kommen läßt, der übertritt die Regel aus Verachtung. Wer aber aus Zorn oder Begierlichkeit oder aus einer ähnlichen besonderen Ursache gegen eine Regel sich verfehlt, der sündigt nicht aus Verachtung, wenn er auch häufiger die nämliche Regel übertritt; wie Augustin sagt (de nat. et grat. 29.), daß „nicht alle Sünden von der Verachtung des Hochmuts aus begangen werden.“ Jedoch bereitet die häufige Übertretung zur Verachtung vor, nach Prov. 18.: „Der Gottlose, wenn er immer tiefer in die Sünde sich stürzt, wird verachten.“
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