36. Posidonius.
Über Posidonius von Theben zu berichten ist ein schwieriges Unternehmen; so reicher Stoff böte sich dar. Gedenk' ich seiner Sanftmut und des strengen makellosen Wandels, so bin ich sehr im Zweifel, ob ich irgend jemand aus meinem Bekanntenkreise mit ihm vergleichen kann. In Bethlehem, woselbst er jenseits des Hirtenklosters1 wohnte, lebten wir ein Jahr S. 392 zusammen und ich konnte mich selbst überzeugen, wie reich er an jeglicher Tugend war. Unter anderem hat er mir eines Tages das Folgende selbst erzählt:
"Als ich in der Porphyrwüste2 mich aufhielt, traf ich ein volles Jahr nicht einen Menschen, hörte keine menschliche Stimme mehr und hatte keinen Bissen Brot; nur armselige Feigen und wilde Kräuter, wenn ich zuweilen solche fand, bildeten meine Nahrung. Als ich einmal überhaupt nichts mehr zu essen hatte, ging ich aus meiner Höhle fort, um bewohnte Gegend zu suchen. Ich wanderte den ganzen Tag umher und gelangte trotzdem kaum zwei Meilen von der Höhle weg. Während ich die Gegend überschaute, nahm ich einen Reiter wahr; ich hielt ihn für einen Soldaten, denn er trug auf dem Haupt einen Helm, der tiaraförmig auslief. Ich machte mich deshalb auf den Weg nach der Höhle. Hier fand ich einen Korb mit Weintrauben und frischgeschnittenen Feigen. Voll Freude nahm ich ihn und erquickte mich zwei Monate lang mit dieser Nahrung."
In Bethlehem wirkte Posidonius folgendes Wunder: Ein schwangeres Weib war von einem unreinen Geiste besessen und bekam, da sie gebären sollte, furchtbare Wehen, weil der Geist sie quälte. Da begab sich ihr Mann zu jenem Heiligen und bat ihn zu kommen. Wir gingen miteinander hin, um zu beten. Nachdem er stehend gebetet hatte, trieb er nach der zweiten Kniebeugung den Teufel aus. Als er sich erhoben hatte, sprach er zu uns: "Betet! Denn jetzt zieht der unreine Geist hinweg. Er wird ein Zeichen geben, so daß wir es merken." Da warf der Teufel, indem er ausfuhr, die ganze Hofmauer von Grund aus zu Boden. Sechs Jahre lang war das Weib stumm gewesen. Nachdem der Teufel gewichen war, gebar sie und fing zu reden an.
Ich konnte mich überzeugen, daß dieser Mann auch prophetischen Geist besaß.3 In jener Gegend lebte nämlich ein Priester namens Hieronymus, hochbegabt S. 393 und wohlbewandert in römischer Wissenschaft, aber auch von einer Eifersucht erfüllt, die seine Bildung noch unendlich übertraf. Nachdem Posidonius einige Tage mit ihm zugebracht, hat er mir ins Ohr geflüstert: "Die edle Paula,4 die für ihn Sorge trägt, wird eher sterben als er und, ich glaube, ferne von ihm und unbehelligt von seiner Eifersucht. Seinetwegen wird ein heiliger Mann diese Gegend verlassen und in seinem Ehrgeiz wird er sich sogar mit dem eigenen Bruder entzweien." Diese Weissagung ging in Erfüllung; vertrieb er doch den seligen Oxyperentius, der aus Italien war, desgleichen den Ägypter Petrus und Simeon, Männer, die der Bewunderung würdig waren und die ich bereits erwähnt habe.5
Der genannte Posidonius erzählte mir, er habe schon vierzig Jahre kein Brot mehr gegessen und nie jemand nur einen halben Tag gezürnt.
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Gemeint ist das Feld, auf dem der Engel in der Christnacht den Hirten erschien. ↩
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Südwärts nach dem Roten Meer gelegen. ↩
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Das folgende wenig liebevolle Urteil über den großen Kirchenvater ist aus der beiderseitigen Gegnerschaft des Palladius und Hieronymus im Origenistenstreit erwachsen. Daß auch Hieronymus sehr gereizt von seinen Gegnern redet, ist bekannt (über Palladius im Prol. in dial. adv. Pelag.). ↩
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Vornehme Römerin, die nach dem Tod ihres Gatten zugleich mit ihrer Tochter Eustochium dem hl. Hieronymus nach Bethlehem folgte, dort Pilgerhospize und Klöster baute und im Jahr 404 starb. ↩
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Diese Namen sind sonst nirgends erwähnt und weisen auf mangelnde Textüberlieferung hin, wie auch die Reihenfolge der Abschnitte nicht mehr überall dieselbe geblieben ist. ↩