5.
Über diese Schriften kann man freilich sagen, dass sie manches enthalten, was sich vielleicht nicht ganz deckt mit der darin verborgenen und für die Erkenntnis nicht leicht zugänglichen Wahrheit, was dann entweder so stehen geblieben ist, oder aber durch Schriften aus späterer Zeit Korrekturen erfahren hat, die von uns verfasst werden, zwar nicht mit der Autorität des Lehramts, wohl aber im ständigen Bestreben, das Wissen weiterzuentwickeln. Wir gehören nämlich zu denen, welchen derselbe Apostel sagt (Phil. 3,15): Und wenn ihr anders über etwas denkt, wird Gott euch auch das offenbaren. Diese Art von Schrifttum soll nicht mit der Zwangsläufigkeit des Glaubens sondern mit der Freiheit des Urteilens gelesen werden. Damit nun aber weiterhin Platz bleibt für solche Arbeiten, und so den späteren Gelehrten die höchst heilsame Herausforderung erhalten bleibt, schwierige Fragen in Wort und Schrift zu behandeln und nach allen Seiten zu beleuchten, hat die Erhabenheit der kanonischen Autorität des Neuen und des Alten Testaments gegenüber diesen Schriften Späterer eine Sonderstellung erhalten: fest gegründet in den Zeiten der Apostel, ist sie, während die Bischöfe lückenlos aufeinanderfolgten und die Ortskirchen sich allenthalben ausbreiteten, in erhabener Höhe gleichsam auf einem Thron installiert worden, damit ihr jeder glaubenstreue und gottesfürchtige Geist diene. Wenn darin etwas scheinbar Widersinniges Anstoss erregen sollte, darf man nicht sagen: Der Autor dieser Schrift hat sich nicht an die Wahrheit gehalten, sondern entweder die Handschrift ist fehlerhaft oder der Übersetzer hat sich geirrt oder du erkennst den Sinn nicht.
In den Werken Späterer dagegen, die unzählige Bücher füllen, die aber in keiner Weise mit jener hochheiligen Erhabenheit der kanonischen Schriften vergleichbar sind, mögen sie auch zum Teil die gleiche Wahrheit enthalten, liegt eine bei weitem geringere Autorität. Deshalb hat der Leser oder Hörer bei ihnen immer die freie Entscheidung, das anzuerkennen, was ihm gefällt, und das abzulehnen, was ihm missfällt, selbst wenn seine Meinung, dass eine Aussage der Wahrheit widerspreche, darauf beruht, dass er sie nicht so verstanden hat, wie sie gemeint war. Und aus diesem Grunde kann man auch niemandem einen Vorwurf machen, wenn ihm etwas von dem, was da diskutiert oder berichtet wird, missfällt oder er es nicht glauben will, es sei denn, es liesse sich durch eine hieb- und stichfeste Argumentation oder aber durch Verweis auf jene kanonische Autorität verteidigen, sodass bewiesen wäre, dass es sich tatsächlich so verhält oder wenigstens so hätte sein können.
Bei jenen Heiligen Schriften dagegen, die durch die Aufnahme in den Kanon eine Sonderstellung besitzen, darf man den Wahrheitsgehalt niemals anzweifeln, selbst wenn etwas nur von einem einzigen Propheten oder Apostel oder Evangelisten, doch mit der Bestätigung durch den Kanon gesichert, in seine Schrift aufgenommen wurde. Andernfalls, wenn die höchst heilsame Autorität dieser Schriften durch Nichtbeachtung gänzlich zerfällt, oder durch Anfeindung Schaden leidet, wird nicht eine Seite übrig bleiben, welche die Schwäche der menschlichen Unwissenheit lenken könnte.
