1.
Faustus sagte: Wenn Jesus nicht geboren ist, wie konnte er dann sterben? Das ist nun freilich schon eine Mutmassung; Mutmassungen aber braucht nur jemand, dem die Beweise ausgegangen sind. Dennoch werden wir auch diese Frage beantworten, und dabei die Zeugnisse ausschliesslich aus Schriftstellen holen, denen ihr für gewöhnlich Glauben schenkt; wenn diese echt sind, werden sie auch uns bestätigen, wenn sie aber gefälscht sind, werden sie auch euch Lügen strafen. Du sagst also: Wie konnte Jesus sterben, wenn er nicht Mensch war? Ich aber frage dich: Wie kam es, dass Elias nicht starb, da er doch Mensch war (cf. II Kön. 2,11)? War es etwa ihm als Sterblichem erlaubt, gegen seine Natur das Recht der Unsterblichkeit an sich zu reissen, Christus aber als Unsterblichem wäre es nicht erlaubt gewesen, auch nur ein Stück des Todes für sich zu beanspruchen, wenn es erforderlich war? Und wenn Elias gegen seine Natur in Ewigkeit lebendig bleibt, warum gestehst du Jesus nicht zu, gerade einmal für drei Tage tot zu sein, was nicht stärker gegen die Natur verstösst, zumal noch hinzukommt, dass ihr nicht nur von Elias, sondern auch von Moses und Enoch (cf. II Hen. 77,1f.) glaubt, dass sie unsterblich sind und leibhaft in den Himmel entrückt wurden? Wenn sich daher aus dem Argument, dass Jesus gestorben ist, der zwingende Schluss ergibt, dass er ein Mensch war, dann ergibt sich aus dem entsprechenden Argument, dass Elias nicht gestorben ist, der nicht weniger zwingende Schluss, dass er kein Mensch war. Doch auch wenn man noch so glaubt, dass Elias unsterblich ist, ist es falsch, daraus den Schluss zu ziehen, dass er nicht Mensch war; genau so falsch wird es sein, aus der Annahme, dass Jesus gestorben ist, den Schluss zu ziehen, dass er Mensch war. Und glaube mir bitte noch eins, denn ich sage die Wahrheit: beide haben bei den Hebräern eine falsche Vorstellung hinterlassen, Jesus über seinen Tod, Elias über seine Unsterblichkeit; denn weder ist jener gestorben, noch ist dieser nicht gestorben. Doch ihr glaubt ja, was euch passt; wenn euch etwas nicht passt, nehmt ihr die Natur als Vorwand. Wenn man sich nun fragt, was in der Verfügungsgewalt der Natur liegt, so will sie natürlich weder, dass ein Unsterblicher stirbt, noch dass ein Sterblicher nicht stirbt. Wenn man aber fragt, wieweit Gott und der Mensch die Entscheidungsfreiheit besitzen, das in die Tat umzusetzen, was sie gern möchten, so glaube ich, dass es Jesus eher möglich war zu sterben, als Elias nicht zu sterben. Denn Jesus besitzt ja die grössere Entscheidungsfreiheit als Elias. Und wenn du den, der weniger Entscheidungsfreiheit besitzt, gegen die Verfügung der Natur in den Himmel erhebst und ihn unter Missachtung seiner Natur und Bestimmung unsterblich machst, warum sollte dann ich nicht eingestehen, dass Jesus sterben konnte, wenn er es wollte, sogar wenn ich einverstanden wäre, dass der Tod wirklich, und nicht nur sinnbildhaft erfolgte. So wie er nämlich gleich von Anfang an, nachdem er die Gestalt des Menschen angenommen hatte (cf. Röm. 8,3), sämtliche Erfahrungen, die zur menschlichen Natur gehören, vorspielte, wäre es passend, wenn er am Schluss, um den Heilsplan zu besiegeln, auch noch zum Schein den Tod auf sich genommen hätte.
