XX.
1. Ich habe nun die Ansichten fast aller Philosophen von größerer Bedeutung vorgetragen und gezeigt, daß sie trotz mannigfaltigster Benennungen doch nur einen Gott gekannt haben. So bekommt jeder die Meinung, entweder seien jetzt die Christen Philosophen oder die Philosophen seien schon früher Christen gewesen.
2. Wenn nun aber die Welt durch eine Vorsehung geleitet und durch den Wink eines Gottes regiert wird, so darf nicht das unwissende Altertum, das an seinen Märchen sich ergötzt hat oder vielmehr sich dadurch täuschen ließ, uns zu seinen irrigen Vorstellungen hinüberziehen. Denn es wird ja durch die Urteile seiner eigenen Philosophen widerlegt, denen außer der Autorität des Alters auch die der Vernunft zur Seite steht. 3. Unsere Vorfahren waren Lügen gegenüber so leichtgläubig, daß sie blindlings auch an andere Ungeheuerlichkeiten wahre Wunderdinge glaubten; an die S. 169 vielgestaltete Scylla und Chimära und die aus fruchtbaren Wunden immer wieder neu hervorwachsende Hydra und die Centauren, Rosse, die mit ihren Reitern verwachsen wären. Kurz, was immer die Sage zu erdichten vermag, haben sie gern gehört. 4. Und nun gar jene Ammenmärchen, wonach aus Menschen Vögel und wilde Tiere, ja aus Menschen Bäume und Blumen geworden sein sollen! Wenn dergleichen geschehen wäre, so würde es jetzt noch geschehen; weil es aber nicht geschehen kann, deshalb ist es nicht geschehen. 5. In gleicher Weise haben auch unsere Vorfahren über die Götter sich geirrt: unüberlegt, leichtgläubig haben sie mit naiver Einfalt ihren Glauben gebildet. Während sie ihre Könige mit heiliger Scheu verehrten, während sie nach deren Hinscheiden das Bedürfnis fühlten, sie in Bildern vor Augen zu haben, und das Bestreben hatten, ihr Andenken in Statuen festzuhalten, wurde später ein Gegenstand des Kultes, was ursprünglich nur als Trostmittel gedient. 6. Endlich verehrte jedes Volk, bevor der Erdkreis dem Handel erschlossen ward und die Völker ihre Sitten und Gebräuche austauschten, seinen Stifter oder ruhmreichen Führer oder seine tugendhafte, mehr als weiblichen Mut zeigende Königin oder den Erfinder irgendeiner wohltätigen Einrichtung oder Kunst als einen Bürger von gutem Andenken. So ward den Verstorbenen eine Belohnung und den künftigen Geschlechtern ein Vorbild gegeben.
