XXIX.
1. Diese und ähnliche Schamlosigkeiten dürfen wir nicht einmal anhören; schon eine eingehendere Abwehr wäre geradezu unsittlich. Ihr erdichtet von keuschen und schamhaften Leuten Dinge, welche wir überhaupt nicht für möglich halten würden, wenn ihr nicht eurerseits dafür den Beweis liefern würdet.
2. Wenn ihr weiterhin einen Missetäter und sein Kreuz als Gegenstand unserer religiösen Verehrung erklärt, so irrt ihr weit von der Wahrheit ab, falls ihr glaubt, daß bei uns einer als Gott gilt, der eine Strafe verdient oder nur Irdisches vollbracht hat. 3. In Wirklichkeit ist der bedauernswert, dessen ganze Hoffnung sich auf einen sterblichen Menschen gründet; denn all seine Hilfe hat mit dem Tode dieses Menschen ein S. 188 Ende. 4. Die Ägypter freilich wählen sich einen Menschen zur Verehrung aus; ihn allein suchen sie gnädig zu machen, ihn befragen sie über alles, ihm schlachten sie Opfertiere. Aber er, welcher den anderen als Gott gilt, bleibt wenigstens für sich ein Mensch, mag er wollen oder nicht; denn sein eigenes Bewußtsein betrügt er nicht, wenn er auch andere täuscht. 5. Sogar Fürsten und Königen wird nicht als großen und auserwählten Männern, wie es recht ist, sondern wie Göttern in schimpflicher Weise eine falsche Schmeichelei entgegengebracht und doch wäre für einen erlauchten Mann Ehre mehr am Platz und für einen Wohltäter Liebe wohltuender. So rufen sie dieselben als Gottheiten an, flehen zu ihren Standbildern, beten zu ihrem Genius, [besser gesagt Dämon,] und es dünkt ihnen weniger gefährlich, bei dem Genius des Jupiter falsch zu schwören, als bei dem des Königs.
6. Auch Kreuze beten wir nicht an und wünschen sie nicht. Ihr allerdings, die ihr hölzerne Götter weiht, betet vielleicht hölzerne Kreuze an als Bestandteile eurer Götter. 7. Was sind denn anders die militärischen Feldzeichen und Banner und Fahnen, als vergoldete und gezierte Kreuze? Eure Siegeszeichen haben nicht bloß die Gestalt eines einfachen Kreuzes, sondern erinnern auch an einen Gekreuzigten. 8. Das Kreuzeszeichen sehen wir auch ungekünstelt auf dem Schiffe, wenn es mit schwellenden Segeln fährt oder mit ausgestreckten Rudern dahingleitet. Auch wenn ein Joch errichtet wird, entsteht das Zeichen des Kreuzes; ebenso wenn ein Mensch mit erhobenen Händen Gott nur im Geiste verehrt. So liegt die Kreuzesform teils natürlichen Verhältnissen zugrunde, teils kommt sie bei euren religiösen Gebräuchen zur Verwendung.
