2.
"Ehrwürdige und redekundige Männer, ihr seid hier zusammengekommen, mir zuzuhören. Ich nehme aber an, ihr seid hierhergekommen mehr mit dem Ohr eines Heilsbegierigen als eines Kritikers, gekommen, um in mir einen Zeugen des Glaubens zu hören, nicht einen wortreichen Redekünstler. Was gestern erzählt wurde, will ich nicht nochmals wiederholen; wer es nicht mit angehört hat, kann es dann in den Schriften nachlesen. Postumianus wartet auf Neues, um es dem Morgenlande mitzuteilen, damit es sich in Ansehung des Martinus nicht stolz über das Abendland erheben könne. Zuerst drängt es mich, das zu erzählen, worauf mich Refrigerius .aufmerksam macht, indem er mir ins Ohr raunt. Die Sache hat sich in Chartres zugetragen.
Ein Familienvater brachte seine zwölfjährige Tochter, die von Geburt an stumm war, zu Martinus. Er bat, der Gottesmann solle kraft seiner heiligen Verdienste die gebundene Zunge lösen. Martinus schob die Bischöfe Valentinus1 und Viktricius2 vor, die damals gerade in seiner Begleitung waren; er sei einer so schweren Aufgabe nicht gewachsen, ihnen, den heiligeren, sei kein Ding unmöglich. Doch diese vereinigten ihre frommen Bitten in inständigem Flehen mit dem Vater und baten Martinus, er möge gewähren, was man von ihm erhoffe. Jetzt zauderte er nicht mehr länger. Beides ist gleich rühmenswert, die Demut, die er an den Tag legte, wie auch die väterliche Liebe, die er nicht mehr länger zurückdrängte. Er hieß die Volksmenge, die ihn umstand, weggehen. Nur die Bischöfe und der Vater des Mädchens blieben zurück. Nun warf sich Martinus seiner Gewohnheit gemäß auf den Boden nieder, um zu beten. S. 127Hierauf sprach er den Exorzismus über etwas Öl und segnete es. Dann goß er die geweihte Flüssigkeit dem Mädchen in den Mund, während er ihre Zunge mit seinen Fingern berührte. Der Heilige täuschte sich nicht in der Wirkung der Wunderkraft. Er fragte nach dem Namen des Vaters, sogleich antwortete das Mädchen. Da schrie der Vater laut auf, mit Freudentränen umfaßte er die Kniee des Martinus; er erklärte zum Staunen aller, das sei das erste Wort, das er aus dem Munde seiner Tochter vernommen habe. Damit niemand diese Erzählung für unglaublich halten könne, soll Evagrius, der hier zugegen ist, der Wahrheit Zeugnis geben; in seiner Gegenwart hat sich ja dieses damals zugetragen.
Bischof von Chartres. ↩
Bischof von Rouen. Er war nach Paulinus Ep. XVIII, 9 etwas jünger als Martin. In seiner Jugend war er auch Soldat 403 kam er [wegen Häresie verdächtigt?] nach Rom. Man schreibt ihm eine Homilie De laude sanctorum zu. Er starb vor 409 und wird am 7. August als Heiliger gefeiert. Vgl. E. Vacandard, S. Victrice [Paris 1903]. ↩
