15.
Eines Tags saß Martinus in dem kleinen Hofraum, der seine Zelle umschloß, auf dem hölzernen Stuhle, der euch wohlbekannt ist. Da sah er, wie zwei Dämonen auf den hohen Felsen traten, der das Kloster überragte; von dort riefen sie in ausgelassener Lust wie um aufzumuntern: „He da, Brictio1 , voran Brictio.“ S. 143Ich glaube, sie sahen von ferne, wie jener Arme sich näherte und wußten wohl, welche Wut sie in ihm angefacht hatten. Nicht lange, und Brictio stürzte wütend daher; in seiner rasenden Tollheit überschüttete er Martinus mit einer Flut von Schimpfworten. Dieser hatte ihn nämlich tags zuvor ausgescholten. Brictio war im Kloster von Martinus aufgezogen worden. Bevor er Kleriker war, besaß er gar nichts; jetzt warf ihm Martinus vor, daß er Pferde halte und Sklaven aufkaufe. Ja viele beschuldigten ihn damals, daß er nicht bloß ausländische Sklaven, sondern auch hübsche Mädchen zusammengekauft habe. Infolge dieser Vorwürfe war dem Ärmsten in blinder Wut die Galle übergelaufen; dazu wurde er noch, ich bin davon überzeugt, ganz besonders von jenen Dämonen aufgestachelt. So ging er auf Martinus in einer Weise los, daß er sich kaum von Tätlichkeiten enthalten konnte. Der Heilige jedoch bewahrte seine friedliche Miene und sein ruhiges Gemüt, er suchte die Raserei des Unglücklichen durch sanfte Worte in Schranken zu halten. Allein in jenem hatte der Geist der Bosheit schon so sehr die Oberhand gewonnen, daß er die Herrschaft über sein freilich willensschwaches Gemüt verlor; seine Lippen zitterten, er wechselte die Gesichtsfarbe; blaß vor Wut stieß er gottlose Worte hervor. Er sagte, ihm käme größere Heiligkeit zu, er sei von Kindheit an im Kloster und in heiliger Kirchenzucht unter der Leitung des Martinus herangewachsen; Martinus aber habe sich in der ersten Zeit, was er nicht in Abrede stellen könne, durch sein Soldatenleben befleckt2 , und bei seinem törichten Aberglauben und seinen eingebildeten Gesichten sei er in lächerlichem Firlefanz alt geworden. Nachdem er aber derartige und noch andere bissige Äußerungen, die ich besser verschweige, gleichsam ausgespuckt und so seine Wut gekühlt hatte, machte er sich endlich wie einer, der seinen Rachedurst gestillt hat, eilenden Schrittes auf demselben S. 144Wege, den er gekommen war, wieder davon. Inzwischen hatte jedenfalls das Gebet des Martinus die Dämonen von seinem Herzen verjagt; zur Reue gestimmt, kehrte er bald um, warf sich Martinus zu Füßen, bat um Verzeihung, bekannte seine Verirrung und gab, endlich wieder vernünftig geworden, zu, daß der Teufel ihn beherrscht habe. Er hatte keine schwere Mühe, bei Martinus Verzeihung zu erwirken. Hierauf erzählte der Heilige ihm und uns allen, wie er gesehen habe, daß Dämonen jenen aufgestachelt hatten; Schmähreden machten keinen Eindruck auf ihn, sie hätten mehr dem Schaden zugefügt, aus dessen Munde sie gekommen seien. In der Folgezeit wurden demselben Brictio bei Martinus oft viele und schwere Vergehen zur Last gelegt; trotzdem ließ er sich nicht dazu bestimmen, ihn seiner priesterlichen Würde zu berauben, um nicht den Anschein zu erwecken, als ahnde er dabei die ihm zugefügten Unbilden; häufig äußerte er sich dann: „Wenn Christus den Judas geduldig ertragen hat, warum sollte ich den Brictio nicht ebenso ertragen?“
Brictio [Brictius, Bricius] war der Nachfolger des hl. Martinus auf dem bischöflichen Stuhl von Tours. Er scheint sich zunächst gegen die Schüler des Heiligen feindselig vorhalten zu haben, weshalb sie sich zu Sulpicius Severus flüchteten. So ist vielleicht der scharfe Ton zu erklären, den hier Severus anschlägt zu einer Zeit, da Brictio doch schon Bischof war. Brictio hatte sich auf dem Konzil von Turin [401] zu rechtfertigen. Im 38. Jahr seiner Regierung wurde er auf eine Verleumdung hin abgesetzt, konnte aber später wieder nach Tours zurückkehren, wo et im Rufe der Heiligkeit starb. Sein Fest wird am 13. November gefeiert. S. Tillemont, Memoires X, 687,91; De Prato I, 178/83. ↩
Vgl. Vita 4 Anmerkung. ↩
