4.
Es ist euch bekannt, wie unbändig, maßlos, grausam und roh der frühere Comes Avitianus war. Er hielt einmal voll wütenden Ingrimms seinen Einzug in die Stadt der Turonen. Eine ganze Reihe erbarmungswürdiger Gestalten, mit Ketten beladen, folgten ihm. Er ließ alle möglichen qualvollen Peinen für seine Opfer vorbereiten und setzte zum Entsetzen der Stadt den Vollzug des Henkerwerkes auf den nächsten Tag fest. Sobald dies dem Martinus zu Ohren kam, eilte er kurz vor Mitternacht allein zum Palaste jenes Unmenschen. S. 129Alles ruhte in der Stille der Nacht in tiefem Schlafe. Alle Tore waren geschlossen, kein Zugang stand offen. Da warf sich Martinus vor der bluttriefenden Schwelle nieder. Avitianus lag also unterdessen in tiefem Schlafe. Da schreckte ihn ein Engel auf, der plötzlich vor ihm stand und sagte: „Der Diener Gottes liegt vor deiner Schwelle und du kannst dich der Ruhe überlassen?“ Verwirrt sprang er bei diesen Worten rasch aus dem Bette, rief seine Diener herbei und erklärte zitternd, Martinus sei vor der Türe, sie sollten eilen und das Tor öffnen, damit der Diener Gottes keine Unbill erleide. Allein jene taten, wie es gewöhnlich Diener machen: sie traten kaum etwas über die Türschwelle hinaus, dann lachten sie über ihren Herrn, daß er sich durch einen Traum habe täuschen lassen; sie stellten in Abrede, daß jemand draußen sei; legte ihnen doch ihre Veranlagung die Vermutung nahe, bei Nacht könne niemand wachen; noch viel weniger konnten sie glauben, daß ein Bischof in einer so unfreundlichen Nacht vor einer fremden Türe liege. Dem Avitianus leuchtete das auch sofort ein. Wieder sank er in Schlaf. Aber bald wurde er noch heftiger wieder aufgerüttelt. Er rief, Martinus müsse vor der Türe stehen; deshalb könne er an Leib und Seele keine Ruhe finden. Da die Diener zögerten, ging er selbst bis zum äußeren Tore. Dort traf er Martinus, wie er geahnt hatte. Ganz erschüttert durch den Erweis solcher Tugend, fragte der Elende: „Herr, warum tatest du mir das? Du brauchst kein Wort zu sagen, ich weiß schon, was du wünschest, ich sehe klar, was du verlangst. Geh so rasch du kannst fort von hier, auf daß der Zorn des Himmels mich nicht verzehre ob der Unbill, die du erlitten hast. Genug habe ich wohl bis jetzt gebüßt. Glaube nur, daß es mich nicht leicht angekommen ist, selbst herauszukommen“. Nachdem der Heilige weggegangen war, rief Avitianus seine Beamten zusammen, befahl, alle Gefangenen freizulassen und reiste bald nachher selbst ab. Jetzt kehrte Freude und Freiheit in die Stadt zurück, da Avitianus vertrieben war.
