10. Beispiel des Königs Ezechias, den der Pfeil eitler Ruhmsucht hingestreckt hat.
S. 232 Von Ezechias, dem Könige von Juda, einem Manne von einer in jeder Beziehung vollendeten Gerechtigkeit und als solcher anerkannt durch das Zeugniß der heiligen Schrift, lesen wir,1 daß derselbe nach unzähligen ruhmwürdigen und frommen Thaten von dem Pfeil der Eitelkeit niedergeworfen worden sei; und er, der die Vernichtung von fünfundachtzig Tausend Mann aus dem Heere der Assyrer durch die Hand des während der Nacht verheerenden Engels durch ein einziges Gebet zu erbitten vermochte, läßt sich durch eitles Rühmen überwinden. Um das so lange Verzeichniß seiner Tugenden zu übergehen, welches aufzuschlagen mich zu weit führen würde, will ich nur eines erwähnen. Nachdem ihm sein Lebensende angesagt und sein Todestag durch einen Ausspruch des Herrn vorausverkündet worden war, verdiente er durch ein Gebet, um fünfzehn Jahre die Grenze seines Lebens zu überschreiten, wobei die Sonne um zehn Stufen, welche sie, ihrem Untergange zueilend, schon erleuchtet hatte, wieder zurückkehrte und die Stunden, welche in Folge ihres Falles der nachrückende Schatten eingenommen hatte, durch ihre Rückkehr verscheuchte und so durch ein unerhörtes Wunder gegen die feststehenden Naturgesetze für den ganzen Erdkreis einen doppelten Tag schuf. Wie er nach so großen und unglaublichen Zeichen, nach so ausserordentlichen Beweisen von Tugenden durch seine eigenen glücklichen Erfolge besiegt wurde, darüber vernimm die Erzählung der heiligen Schrift. „In jenen Tagen,“ sagt sie,2 „erkrankte Ezechias auf den Tod; da bat er den Herrn, und der erhörte ihn und gab ihm ein Zeichen,“ jenes nämlich von der Rückkehr der Sonne, welches durch den Propheten Isaias gegeben wurde, wie wir im vierten Buche der Könige lesen; aber S. 233 nicht, sagt sie weiter, hat er nach den Wohlthaten, die er empfangen, vergolten, denn „es erhob sich sein Herz, und los brach Gottes Zorn gegen ihn, sowie gegen Juda und Jerusalem. Doch er verdemüthigte sich nachher darüber, daß sich sein Herz erhoben habe, sowohl er als die Bewohner Jerusalems, und deßhalb kam nicht über sie der Zorn des Herrn in den Tagen des Ezechias.“ Wie verderblich, wie heftig ist die Krankheit der Selbstüberhebung! Eine solche Gerechtigkeit, solche Tugenden, ein solches Vertrauen, eine solche Hingebung, welche sogar die Natur und die Gesetze des Weltalls zu ändern verdienten, gehen durch eine einzige Sünde der Eitelkeit zu Grunde, so daß Ezechias, nachdem alle seine Tugenden wie ein Nichts der Vergessenheit anheimgefallen waren, den Zorn des Herrn sofort erfahren hätte, wenn er ihn nicht durch die wiedererworbene Demuth versöhnt hätte. So konnte er, der von einer so erhabenen Stufe der Verdienste, getrieben von der Eitelkeit, herabgefallen war, nur auf denselben Stufen der Demuth zu der verlorenen Höhe wieder emporsteigen. ― Vernimm noch ein anderes Beispiel eines ähnlichen Sturzes.
