21.
Ich leugne nicht, daß unter den Witwen und unter den Ehegattinnen heilige Frauen sich finden, aber nur wenn sie aufgehört haben, Gattinnen zu sein, wenn sie selbst in der Zwangslage, die der Ehestand mit sich bringt, die jungfräuliche Keuschheit nachahmen. Dies hat auch der Apostel, in dem Christus sprach, in den kurzen Worten bezeugt: „Die Unverheiratete denkt an das, was Gottes ist, wie sie Gott gefalle; die Verheiratete aber ist auf das Weltliche bedacht und darauf, wie sie ihrem Mann gefalle“1 , unserer Betätigung S. 291in dieser Sache freien Spielraum überlassend Er legt niemandem eine Verpflichtung auf, auch stellt er keinem eine Schlinge2 , sondern was ehrbar ist, rät er an, da er will, daß alle so seien, wie er selbst3 . Zwar hat er über die Jungfräulichkeit kein Gebot von Gott erhalten, weil sie über die Kraft des Menschen geht Auch wäre es in gewissem Sinne anmaßend, gegen die Natur einen Zwang aufzuerlegen, mit anderen Worten, zu sagen: „Ich will, daß ihr seid, was die Engel sind“ [Die Jungfrau freilich erhält einen höheren Lohn, weil sie auf das verzichtet, was sie ohne Sünde tun könnte.] Trotzdem fährt er im Zusammenhang fort: „Einen Rat aber gebe ich euch, denen der Herr die Gnade verliehen hat, treu zu sein. Ich bin der Meinung, dieses sei gut um der bevorstehenden Not willen; denn es ist den Menschen gut, also zu sein“4 . Was ist dies aber für eine Not? „Wehe aber den Schwangeren und Säugenden an jenem Tage“5 . Der Wald wächst heran, um nachher niedergehauen zu werden. Das Feld wird besät, um die Ernte einzusammeln. Schon ist die Welt voll, die Erde faßt uns nicht mehr. Täglich mähen uns Kriege hinweg, Krankheiten raffen uns dahin, Schiffbrüche fordern ihre Opfer, und da streiten wir uns noch herum über die Enthaltsamkeit? Zu dieser Zahl gehören jene, welche dem Lamme folgen, welche ihr Gewand nicht befleckt haben6 ; denn sie sind jungfräulich geblieben. Gib acht auf die Bedeutung der Worte: „Sie haben befleckt“. Ich wage nicht, sie zu erklären, um Helvidius keine Veranlassung zu Schmähungen zu geben. Was aber deinen Einwand, es gebe auch Wirtshausjungfern, anbelangt, so kann ich dir nochmehr sagen. Unter diesen sind auch Ehebrecherinnen, und — vielleicht erregt dies in noch höherem Grade dein Erstaunen — Kleriker und schamlose Mönche sind die Wirte. Aber wer sieht nicht sofort ein, daß eine Kellnerin keine Jungfrau, ein Ehebrecher kein Mönch S. 292und ein Schenkwirt kein Kleriker sein kann? Ist es denn Schuld des jungfräulichen Standes, wenn einer, der Jungfräulichkeit heuchelt, im Laster lebt? Doch ich will, um von anderen Personen ganz zu schweigen, auf die Jungfrau zurückkommen, welche im Schankbetriebe tätig ist. Ich weiß nicht, ob sie dem Fleische nach Jungfrau bleibt, ich weiß aber wohl, daß sie es dem Geiste nach nicht bleibt.
