17.
Es hat nichts Auffälliges an sich, daß bei einer Gegenüberstellung der Heiligen die einen auf einer höheren, die anderen auf einer tieferen Stufe stehen, da ja auf der anderen Seite bei einem Vergleich unter den Sündern dieselbe Wahrnehmung zu machen ist. An Jerusalem, das von vielen Sündenwunden durchbohrt ist, ergeht das Wort: „Neben dir ist Sodoma gerechtfertigt worden“1. Nicht als ob Sodoma, das für alle Zeiten in einen Aschenhaufen zusammengesunken ist, an sich gerecht sei, hört es Ezechiel sprechen: „Sodoma wird in seinen alten Zustand zurückkehren“2, sondern weil es neben dem schuldbeladenen Jerusalem noch als gerecht gelten kann. Jerusalem hat nämlich den Sohn S. 364 Gottes ermordet. Sodomas Begehren ging wegen des Überflusses an Brot und infolge des großen Luxus nur über das Maß des Erlaubten hinaus3. Der Zöllner im Evangelium, der an seine Brust schlägt, als ob sie ein Tummelplatz schlechter Gedanken wäre, wagt im Bewußtsein seiner Schuld die Augen nicht zu erheben; aber er erscheint neben dem hochfahrenden Pharisäer als der Gerechtere4. Thamar, die sich für eine Buhlerin ausgibt und so den Juda überlistet, hört mit Recht aus dem Munde dessen, den sie getäuscht hat, die Worte: „Thamar ist gerechter als ich“5. Aus all den beigebrachten Beispielen ergibt sich, daß die Menschen nicht nur im Vergleich zu der göttlichen Majestät keineswegs vollkommen sind, sondern selbst neben den Engeln und den übrigen Menschen, die den Gipfel der Tugenden erstiegen haben. Auch du bist besser gegenüber einem andern, den du als unvollkommen dartust, während du wiederum von einem dritten, der dich überragt, in den Schatten gestellt wirst. Infolgedessen besitzest du nicht die wahre Vollkommenheit, der nichts abgehen darf, damit sie wirklich vollkommen sei.
