19.
C. Kann also kein Heiliger, solange er in diesem Körper ist, alle Tugenden besitzen?
A. Keiner, weil jetzt unser Weissagen und unser Erkennen Stückwerk ist1. Denn es können nicht alle Vollkommenheiten in allen Menschen sich finden, da der Mensch nicht unsterblich ist.
C. Wie ist dann aber der Ausspruch zu erklären: „Wer eine Tugend hat, scheint alle Tugenden zu besitzen“?2
S. 366 A. Es ist da zu denken an eine gewisse Anteilnahme, aber nicht an einen Besitz im eigentlichen Sinne; denn notwendigerweise müssen einzelne durch einige Tugenden hervorragen. Übrigens weiß ich nicht, wo der von dir angeführte Ausspruch geschrieben steht.
C. Ist dir unbekannt, daß es sich um einen Ausspruch der Philosophen handelt?
A. Er rührt also nicht von den Aposteln her. Ich aber frage nicht darnach, was Aristoteles, sondern was Paulus lehrt.
C. Ich bitte dich, schreibt nicht der Apostel Jakobus, daß derjenige sich an allem verschuldet, welcher in einem Stücke fehlt?3
A. Die Stelle erklärt sich selbst. Der Apostel — davon ging nämlich die Erörterung aus — sagt nicht: „Wer einen Reichen vor einem Armen durch Ehrungen bevorzugt, ist des Ehebruches oder des Mordes schuldig“. Darin irren sich nämlich die Stoiker, wenn sie behaupten, alle Sünden seien gleich. Die Sache ist wie folgt zu verstehen: Wer sagt: „Du sollst nicht ehebrechen“, der sagt auch: „Du sollst nicht töten. Wenn du nun nicht tötest, brichst aber die Ehe, dann bist du ein Übertreter des Gesetzes geworden“4. Leichte Vergehen werden leichten, schwere werden schweren gegenübergestellt. Eine Übertretung, welche die Rute verdient, darf nicht mit dem Schwerte gerächt werden; ein des Schwertes würdiges Verbrechen darf nicht mit der Rute gesühnt werden.
C. Es sei denn: kein Heiliger besitzt alle Tugenden. Das aber wirst du sicher zugeben, daß jemand in S. 367 dem, was er tun kann, vollkommen ist, vorausgesetzt, daß er es tut.
A. Hältst du nicht fest an dem, was ich oben gesagt habe?
C. Was ist das denn?
A. Er ist vollkommen in dem, was er getan hat, und unvollkommen in dem, was er nicht zu tun vermochte.
C. Aber wie er vollkommen ist in dem, was er getan hat, weil er es tun wollte, so hätte er auch in dem, worin seine Unvollkommenheit zutage trat, vollkommen sein können, wenn er es hätte tun wollen.
A. Wer will denn nicht tun, was vollkommen ist? Oder wer wünscht nicht, in allen Tugenden zu glänzen? Wenn du die ganze Tugendfülle für alle in Anspruch nimmst, dann schaltest du die Mannigfaltigkeit der Dinge, den Unterschied der Gnaden und die Verschiedenheit im künstlerischen Wirken des Schöpfers aus, von dem des Propheten heiliges Lied singt: „Alles hast Du in Weisheit gemacht“5. Der Morgenstern könnte sich darüber entrüsten, daß ihm der Glanz des Mondes nicht verliehen ist. Der Mond könnte eine Erörterung anstellen über seine Schwächen und seine Anstrengung, da er das Jahr, den Kreislauf der Sonne, mit den einzelnen Monaten auszufüllen hat. Die Sonne könnte klagend fragen, worin sie gefehlt hat, daß sie langsamer sei in ihrem Laufe als der Mond. Auch wir arme Menschen könnten schreien: „Was für ein Grund liegt denn vor, daß wir Menschen und nicht Engel geworden sind?“ Freilich, euer Lehrmeister, der Alte6, auf den sich dies zurückführt, behauptet, alle vernünftigen Geschöpfe seien in gleicher Ausstattung erschaffen worden, so daß sie nach Art der Wagen und der Viergespanne, wenn sie den Schranken enteilen, mitten in der Rennbahn aufeinanderstoßen oder aneinander vorbeifliegen, um dann an das gewünschte Ziel zu gelangen. Es könnten die Elephanten mit ihrer Körperlast und die S. 368 Greife mit ihrem schweren Gewichte darüber murren, daß sie nur auf vier Füßen einherschreiten, während die Fliegen, Flöhe und andere derartige Tiere unter ihren Flügelchen je sechs Füße haben, und gewisse Würmchen so von Füßen strotzen, daß auch das schärfste Auge die zahllosen Bewegungen nicht mit einem Blicke wahrnehmen kann. So mag Marcion7 sprechen samt den Häretikern, die an den Werken des Schöpfers ihren Spott auslassen. Euer Grundsatz wird dazu führen, daß man das Einzelne tadelt und dann die Hand gegen Gott erhebt und fragt, warum er allein Gott sei, warum er den Geschöpfen in seinem Neide die gleiche Herrlichkeit vorenthalte. Wenn ihr dies auch nicht ausdrücklich sagt, denn so töricht seid ihr nicht, daß ihr offen gegen Gott angehet, so behauptet ihr es doch mit anderen Worten dadurch, daß ihr etwas Göttliches dem Menschen zulegt, nämlich die Sündlosigkeit, was soviel heißt als: „Auch er ist Gott“. Darum spricht auch der Apostel, wo er sich über die Verschiedenheit der Gnaden ausläßt: „Es sind verschiedene Gnadengaben, aber es ist derselbe Geist; es sind verschiedene Ämter, aber derselbe Herr; es sind verschiedene Wirkungsweisen, aber es ist derselbe Gott, welcher alles in allen wirkt“8.
1 Kor. 13, 9. ↩
Die Lehre, daß die Tugend in Wahrheit nur eine ist, führt sich zurück auf Sokrates, der bekanntlich Tugend und Wissen gleichstellt. Ihm schließen sich der Kyniker Antisthenes und Plato an. Erst Aristoteles bekämpft die Lehre von der Einheit der Tugend, nachdem bereits Plato in reiferen Jahren seine Ansicht einer Revision unterzogen hatte. Vgl. Zeller, Die Philosophie der Griechen II, 14, 146. 312. 598. 882 f.; II, 23, 636 f. Über die Einheit der Tugend und des Lasters, wie sie die Stoiker lehrten, handelt Augustinus eingehend unter Hinweis auf Jak. 2, 10 in der epist. 132 ad Hieronymum. (M. XXII, 1138 ff.). ↩
Jak. 2, 10. ↩
Jak. 2, 11. ↩
Ps. 103, 24 [Hebr. Ps. 104, 24]. ↩
Gemeint ist mit dem Ausdruck ὁ ἀρχαῖος [ho archaios] wohl Origenes. Es scheint sich um einen Spottnamen zu handeln, der ihm wegen seiner Bücher περὶ ἀρχῶν [peri archōn] beigelegt wurde. ↩
Marcion, ein im zweiten Jahrhundert zu Rom lebender Gnostiker, sah in den geschaffenen Dingen den Ursprung des Bösen und der Leiden. ↩
1 Kor. 12, 4―6. ↩
