33.
C. Ich bitte dich, hast du nicht die Stelle gelesen: „Wer ein Weib ansieht, um es zu begehren, der hat schon in seinem Herzen mit ihr die Ehe gebrochen“?1 Nicht der Blick an sich und der Anreiz zum Bösen werden als Sünde angerechnet, sondern nur das, wozu wir unsere Zustimmung geben. Entweder können wir den schlechten Gedanken vermeiden, und entsprechend können wir dann auch ohne Sünde bleiben, oder wir können ihm nicht aus dem Wege gehen, dann wird auch das, wovor wir uns nicht hüten konnten, uns nicht als Sünde angerechnet.
S. 389 A. Deine Beweisführung ist zwar geschickt, aber du übersiehst, daß sie sich in Gegensatz zur Heiligen Schrift stellt. Denn die Aussprüche der Schrift gehen von der Voraussetzung aus, daß auch die Unwissenheit etwas Sündhaftes an sich habe. Deshalb bringt auch Job Opfer dar für seine Söhne, falls sie unbewußt in Gedanken gesündigt hätten2. Wenn jemand Holz spaltet und dabei einen Menschen tötet, weil das Beil oder das Eisen vom Holze abgesprungen ist, dann soll er sich in eine Freistadt begeben und solange dort verweilen, bis der Hohepriester stirbt3, d. h. bis er erlöst wird durch das Blut des Heilandes im Baptisterium oder im Bußsakrament, welches die Wirkungen der Taufgnade nachahmt gemäß der unaussprechlichen Milde des Erlösers, der nicht will, daß jemand verloren gehe, und sich nicht freut über den Tod des Sünders, sondern wünscht, daß er sich bekehre und lebe4.
C. Ich frage dich: „Wo bleibt denn da die Gerechtigkeit, wenn ich im Zustande der Sünde sein soll infolge eines Irrtums, dessentwegen das Gewissen keine Schuld empfindet?“ Ich weiß nicht, daß ich gesündigt habe, und soll nun für das, was mir gar nicht zum Bewußtsein kommt, büßen? Was soll ich denn dann mehr tun, wenn ich freiwillig gesündigt habe?
A. Du verlangst von mir eine Begründung für Gottes Ratschlüsse und Anordnungen. Auf deine törichte Frage gibt dir das Buch der Weisheit Antwort: „Forsche nicht nach Dingen, die zu hoch sind für dich, und, was über deine Kräfte geht, das suche nicht zu ergründen!“5 Und anderwärts: „Sei nicht zu klug und wolle nicht mehr beweisen, als nötig ist“6. Und an derselben Stelle: „Suchet Gott in Weisheit und in Einfalt des Herzens!“7 Damit du aber nicht etwa Einspruch S. 390 erhebst gegen dieses Buch8, vernimm den Apostel, der in den volltönenden Worten des Evangeliums hinausschallen läßt: „O Tiefe des Reichtums der Weisheit Gottes und seines Wissens! Wie unerforschlich sind seine Gerichte, wie unergründlich seine Wege? Denn wer hat den Sinn des Herrn erkannt? Oder wer ist sein Ratgeber gewesen?“9 Das sind Fragen, über welche er an anderer Stelle schreibt: „Törichten und ungelehrten Fragen weiche aus, da sie, wie du weißt, Streit erzeugen!“10 Und der Prediger, über dessen kanonischen Charakter sicherlich kein Zweifel besteht, sagt: „Ich sprach: Ich will weise werden, aber sie (die Weisheit) wich weiter von mir hinweg. O tiefer Abgrund! Wer wird sie finden?“11 Du fragst mich, warum der Töpfer das eine Gefäß zur Ehre, das andere aber zur Unehre gemacht hat12, anstatt dich mit Paulus zu beruhigen, der für seinen Herrn antwortet: „O Mensch, wer bist du, daß du mit dem Herrn rechten willst?“13
Matth. 5, 28. ↩
Job 1, 5. ↩
Deut. 19, 5. ↩
Ezech. 18, 32. ↩
Eccli. 3, 22 [= Ecclisiasticus/Sirach]. ↩
Eccle. 7, 17 [= Ecclesiastes/Prediger 7, 16]. ↩
Sap. 1, 1 [= Sapientia/Weisheit]. Es ist ein Irrtum des Hieronymus, wenn er sagt: an derselben Stelle. ↩
Hieronymus schloß das Buch der Weisheit samt den anderen deuterokanonischen Büchern des Alten Testamentes vom Schriftkanon aus. ↩
Röm. 11, 33 f. ↩
2 Tim. 2, 23. ↩
Eccle. 7, 24 f. [= Ecclesiastes/Prediger 7, 23 f.]. ↩
Röm. 9, 21. ↩
Röm. 9, 20. ↩
