32.
Die hundertste These lautet: „Der Mensch S. 387 kann ohne Sünde sein und die Gebote Gottes mit Leichtigkeit beobachten, wenn er will“. Hierüber ist schon reichlich gesprochen worden. Während er selbst angibt, das Werk des heiligen Märtyrers Cyprian nachzuahmen, besser gesagt, zu vervollkommnen, das an Quirinus1 adressiert ist, übersieht er, daß er sich im gleichen Werke mit dieser Schrift in Widerspruch gesetzt hat. Cyprian schreibt in der 54. These des dritten Buches, niemand sei ohne Schmutz und ohne Sünde, wobei er sofort einige Belegstellen anführt. Bei Job steht geschrieben: „Wer wäre rein von Schmutz, selbst dann, wenn sein Dasein auf Erden auch nur einen Tag gedauert hätte?“2 Und im 50. [Hebr. 51.] Psalm: „Siehe, in Ungerechtigkeit bin ich empfangen worden, und in Sünden empfing mich meine Mutter“3. Und im Briefe des Johannes: „Wenn wir sagen, wir hätten keine Sünde, dann täuschen wir uns selbst, und die Wahrheit ist nicht in uns“4. Du aber sagst gerade das Gegenteil: „Der Mensch kann ohne Sünde sein“. Um den Anschein zu erwecken, hierin wahr gesprochen zu haben, fügst du sofort hinzu, der Mensch könne die Gebote Christi mit Leichtigkeit beobachten, wenn er wolle, obwohl nur selten oder gar nie einer dies erreicht hat. Denn wenn sie leicht sind, dann müssen sie auch von der Mehrzahl beobachtet werden. Wenn aber — ich will es dir einmal als geschehen zugeben — in seltenen Fällen jemand die Gebote zu erfüllen vermag, so folgt klar, daß es sich, weil es selten zutrifft, um eine schwere Sache handelt. Um deine Anforderungen noch höher zu schrauben und dich mit der Erhabenheit deiner Tugend zu brüsten, stellst du in deiner These die Forderung: „Man darf nicht einmal leicht sündigen“, eine Forderung, die, wie man glauben möchte, herausquillt aus dem Schatze deines guten Gewissens. Damit man auch die Bedeutung S. 388 des Wortes „leicht“ verstehe und nicht auf den Gedanken komme, du dächtest etwa dabei nur an Handlungen, fügst du hinzu: „Das Böse darf auch nicht gedacht werden“. Erinnerst du dich denn nicht an die Stelle: „Wer kann seine Vergehen wissen? Von den unbewußten Fehlern reinige mich, und vor den fremden bewahre deine Knechte!“5 Auch die Kirche spricht, wenn wir aus Unkenntnis fehlen und nur in Gedanken uns vergehen, von Sünden, so daß sie sogar anordnet, für den Irrtum Opfer darzubringen. Der Hohepriester, der für das ganze Volk bittet, soll zuerst für sich opfern6. Ihm würde sicherlich niemals der Auftrag zuteil, für andere zu opfern, wenn er nicht selbst gerecht wäre. Anderseits würde er nicht für sich opfern, wenn er frei wäre von unbewußten Sünden. Natürlich muß ich nun wieder das so weite Gebiet der Schriften durchlaufen, um darzutun, daß Irrtum und Unkenntnis Sünde sind7.
Gemeint ist die Schrift „Ad Quirinum“, früher meist „Testimoniorum libri adversus Judaeos“ (drei Bücher) genannt. An der Spitze jedes Buches findet sich eine Reihe von Thesen, deren Richtigkeit aus der Hl. Schrift erwiesen werden soll. ↩
Job 14, 4 f. nach LXX. ↩
Ps. 50, 7 [Hebr. Ps. 51, 7]. ↩
1 Joh. 1, 8. ↩
Ps. 18, 13 f. [Hebr. Ps. 19, 13 f.]. ↩
Hebr. 7, 27. ↩
Hieronymus weist darauf hin, daß in der Schrift, besonders im Alten Testamente, nicht nur das peccatum formale, sondern auch die rein materielle Sünde geahndet wurde. Weil man aber leicht unbewußt einer Übertretung der göttlichen Gebote schuldig werden kann, so ist es nicht leicht, so folgert er weiter, die Gebote zu beobachten. Der Hinweis auf die Sühne unbewußter Übertretungen trifft aber nicht den Kern der Sache; denn die Strafe berührt mehr den äußeren Gerichtsbereich, nicht aber das Gewissen. Auch hat sie mehr erzieherischen als sühnenden Charakter. Hieronymus kann übrigens seine Verlegenheit nicht verbergen, er findet keine Begründung für seine Aufstellung. ↩
