9.
A. Du mußt unterscheiden zwischen einer Fertigkeit und dem, was über alle Fertigkeit hinausgeht. Medizin und Handwerk sowie die übrigen Künste zählen sehr viele Vertreter; immer ohne Sünde zu sein dagegen ist dem göttlichen Wesen allein vorbehalten. Führe mir doch solche als Beispiel an, die immer ohne Sünde gewesen sind, oder wenn dir das nicht möglich ist, dann gib zu, daß deine Behauptung auf schwachen Füßen steht und laß die hochtrabenden Phrasen, der du mit den Begriffen „sein“ und „sein können“ andere zum besten hältst! Denn wer wird dir zugeben, daß ein Mensch tun kann, was nie ein Mensch vermocht hat? Du bist nicht einmal in der Dialektik bewandert. Denn wenn ein Mensch etwas kann, dann wird das Nichtkönnen aufgehoben; wenn er aber nicht kann, dann wird dem Können der Boden entzogen. Beweise mir, daß jemand das fertig gebracht hat, was du als S. 348 möglich aufstellst! Ist es aber keinem geglückt, dann wirst du gegen deinen Willen darauf festgelegt, daß tatsächlich keiner das vollführen kann, was du öffentlich als möglich vorträgst. Zwischen Diodorus und Chrysippus1, den gewandtesten Dialektikern, besteht über das Mögliche folgende Streitfrage. Nach Diodorus soll nur das geschehen können, was entweder schon geschehen ist oder in Zukunft wirklich geschehen wird. Und was in Zukunft geschehen wird, das müsse notwendig geschehen. Alles das, was nicht in der Zukunft eintreten wird, das könne auch gar nicht geschehen. Chrysippus aber behauptet, auch was nicht geschehen wird, könne geschehen, z. B. könne diese Perle zerbrochen werden, auch wenn es tatsächlich niemals dazu kommen werde. Diejenigen also, welche behaupten, der Mensch könne ohne Sünde sein, wenn er wolle, werden nicht imstande sein, diese Behauptung als wahr zu erweisen, wenn sie nicht zeigen, daß in Zukunft ein solcher Fall eintreten wird. Da aber alles Zukünftige ungewiß ist, besonders wofern es sich um etwas handelt, was noch niemals verwirklicht worden ist, so ist es klar, daß sie etwas als zukünftig hinstellen, was nicht geschehen wird. Auch der Prediger bestätigt diese Ansicht mit den Worten: „Alles, was noch geschehen wird, ist schon geschehen zu einer früheren Zeit“2.
