29.
Du läßt ferner zwei einander widersprechende Thesen folgen1. Wären sie wahr, dann dürftest du deinen Mund nicht mehr auftun. Die eine lautet: „Einsicht S. 384 in die Heilige Schrift und Verständnis für sie kann nur derjenige besitzen, der darin Unterricht erhalten hat“. Und ein anderes Mal schreibst du: „Die Kenntnis des Gesetzes darf sich ein Ungelehrter nicht anmaßen“. Entweder bist du gezwungen, den Lehrer anzugeben, von dem du Unterricht empfangen hast, damit du berechtigterweise die Kenntnis des Gesetzes für dich in Anspruch nehmen kannst, oder du handelst verkehrt, wenn du, obwohl nicht unterrichtet, die Schriftkenntnis dir anmaßest, und als Lehrer auftrittst, bevor du angefangen hast, Schüler zu sein. Dies träfe aber zu, wenn dein Lehrmeister von keinem anderen Unterweisung empfangen und dich über Dinge belehrt hätte, deren Kenntnis ihm selbst mangelte, es sei denn, daß du in deiner gewohnten Demut dich rühmtest, der Herr, von dem alles Wissen kommt, sei dein Lehrmeister; du hörtest mit Moses in der Wolke und im Nebel von Angesicht zu Angesicht das Wort Gottes. Schließlich schreitest du auch noch mit gehörnter Stirn einher2. Aber damit nicht genug, wirst du sofort zum Stoiker, und mit der Ernsthaftigkeit Zenos3 trägst du uns vor: „Ein Christ muß solche Duldsamkeit besitzen, daß er seine Güter mit Freuden preisgibt, wenn einer sie ihm nehmen will“. Genügt es nicht, in Geduld zu verlieren, was wir besitzen? Müssen wir uns noch bei einem gewalttätigen Räuber bedanken und ihm allerhand Segenswünsche nachsenden? Das Evangelium lehrt zwar, daß wir auch noch den Mantel hergeben sollen, wenn einer mit uns vor Gericht gehen will, um durch Rechtshändel unser Kleid an sich zu bringen4; aber es schreibt nicht vor, daß wir uns dazu noch bedanken und frohen Herzens den Verlust unseres Eigentums auf uns nehmen. Ich bemerke dies, nicht als ob dieser Grundsatz an sich schlimm sei, sondern weil du allerorts übertreibst und den Mittelweg verlassend Luftschlösser baust. So erklärt sich auch deine weitere Behauptung: „Schöne Kleider und Schmuckgegenstände sind Gott zuwider“. Wo verrät S. 385 sich denn, bitte ich, eine Feindseligkeit gegen Gott, wenn ich ein reines Kleid trage, wenn der Bischof, der Presbyter, der Diakon und die übrigen Mitglieder des Klerus bei der Verwaltung des Opferdienstes in glänzendem Gewande einherschreiten? Hütet euch, ihr Kleriker! Hütet euch, ihr Mönche! Ihr Witwen und Jungfrauen, ihr laufet Gefahr, wenn euch das Volk anders als schmutzig und zerlumpt erblickt. Ich schweige ganz von den Weltleuten, denen offen der Krieg erklärt und Feindseligkeit gegen Gott nachgesagt wird, wenn sie sich kostbarer und glänzender Kleidung bedienen.
Der Widerspruch liegt in der theoretischen Forderung, daß ein Ungelehrter sich die Kenntnis des Gesetzes nicht anmaßen darf, einerseits, und in der im gleichen Abschnitt in zwei Geboten sich offenbarenden Praxis andererseits, die in ihren allzu weit gehenden Anforderungen in der Schrift keine Stütze hat. ↩
Exod. 34, 5. 29. Statt „gehörnt“ liest der Urtext „glänzend“. ↩
Zenon (um 364—263 v. Chr.) war der Stifter der stoischen Schule. ↩
Matth. 5, 40. ↩
