1.
Ich bin mir zwar vieler Sünden bewußt, und jeden Tag spreche ich auf den Knien liegend: „Gedenke nicht, o Herr, der Sünden meiner Jugend noch meiner Unachtsamkeit!“ 1 Aber weil mir nicht unbekannt ist, daß der Apostel schreibt: „Wer sich vor Stolz aufbläht, verfällt dem Gerichte des Teufels“, 2 weil es ferner heißt: „Den Hoffärtigen widersteht Gott, aber den Demütigen schenkt er seine Gnade“, 3 habe ich seit meiner Kindheit nichts so sehr zu meiden gesucht wie den Stolz und ein hoffärtiges Wesen, das uns Gottes Haß zuzieht. Ich weiß, daß mein Meister, mein Herr 4 und Gott, als er sich in Menschengestalt verdemütigte, gesprochen hat: „Lernet von mir; denn ich bin sanftmütig und demütig von Herzen.“ 5 Und im Alten Testamente verkündet er durch Davids Mund: „Gedenke, o Herr, Davids und all seiner Sanftmut!“ 6 An einer weiteren Stelle bemerkt die Schrift: „Des Menschen Herz wird gedemütigt, ehe er zu Ehren kommt, und es erhebt sich vor seinem Sturze.“ 7 Deshalb bitte ich Dich inständig, doch ja nicht zu glauben, ich hätte zwar Deine Briefe erhalten, Dich dann aber ohne Antwort gelassen! Laß mich nicht die Treulosigkeit und Nachlässigkeit anderer entgelten! Warum hätte ich Deine Aufmerksamkeit übersehen und Deine freundschaftliche Gesinnung durch mein Schweigen verletzen sollen, wo ich doch von mir aus großen Wert auf die Freundschaft guter Menschen lege und mir ihre Zuneigung zu sichern suche? Denn zwei sind besser als einer. Wenn der eine fällt, so stützt ihn der andere. Ein S. b65 dreifacher Strick reißt nicht. 8 Der Bruder, der dem Bruder hilft, wird erhöht werden. 9 Schreibe also nur mutig drauf los, und häufige Briefe mögen mich unsere räumliche Trennung vergessen lassen!
