Achtunddreißigster Vortrag: Über die Stelle: „Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater...“ bis: „er war verloren und ward gefunden.“ Lk 15,20-24
In zwei Reden haben wir bisher den Abschied des verschwenderischen Sohnes, seine Rückkehr, seine Schuld und seine Buße besprochen. Wir wollen nun S. 209dem Entgegenkommen des Vaters, der Güte des Vaters, der unaussprechlichen Barmherzigkeit des Vaters unsere weitere Aufmerksamkeit widmen. „Und er machte sich auf“, heißt es, „und ging zu seinem Vater. Da er aber noch ferne war, erblickte ihn sein Vater, wird von Mitleid gerührt, lief herbei, fiel ihm um den Hals und küßte ihn“1 . „Und er machte sich auf und ging zu seinem Vater.“ Er erhob sich von seinem geistigen und körperlichen Fall: er erhob sich aus der Tiefe der Unterwelt, da er nach den Höhen des Himmels strebte. Denn in den Augen des himmlischen Vaters steht der Sohn höher durch die Gnade als er fiel durch die Schuld. „Er machte sich auf und ging zu seinem Vater.“ Er ging:seine Füße trugen ihn nicht, aber sein Geist trieb ihn. Für ihn bedurfte es nicht eines langen irdischen Pfades, weil er ja schon gefunden hatte die Spuren des Weges zum Heile. Denn der braucht den göttlichen Vater nicht auf langem Wege zu suchen, der ihn im Glauben sucht und ihn dann alsbald sich nahe weiß. „Er machte sich auf und ging zu seinem Vater. Da er aber noch ferne war.“ Wie kann der noch ferne sein, der [schon an]gekommen war? Er war noch nicht am Ende seines Weges angekommen. Er kam ja zur Buße, aber er war noch nicht angelangt bei der Gnade; er war zwar gekommen zum Hause seines Vaters, aber noch nicht gelangt in den Besitz der Herrlichkeit des Wohlstandes und der Ehre, die er früher besaß. „Da er noch ferne war, erblickte ihn sein Vater.“ Es erblickte ihn jener Vater, „der in der Höhe wohnt und auf die Niedrigkeit sieht und die Höhe von ferne erkennt“2 .
„Da erblickte ihn sein Vater.“ Der Vater schaut ihn an, damit auch er den Vater sehen könnte. Hell leuchtet der Glanz des väterlichen Antlitzes dem Gesichte des ankommenden Sohnes entgegen, damit die volle Finsternis verscheucht würde, die die Schuld über ihn ausgebreitet hatte. Ist doch auch die ganze Finsternis S. 210der Nacht nicht so groß als die, die hervorgeht aus der Dunkelheit der Sünden. Vernehmet, was der Sänger sagt: „Meine Sünden ergriffen mich und ich vermag nicht mehr zu sehen“3 , und an einer anderen Stelle: „Meine Missetaten haben sich schwer auf mich gelegt“4 , und wiederum: „Auch das Licht meiner Augen ist nicht mehr in mir“5 . Die Nacht begräbt den gestrigen Tag, die Sünde begräbt den Geist, wie die Glieder die Seele verwirren. Wenn also des himmlischen Vaters Antlitz nicht glanzvoll dem zurückkehrenden Sohne entgegengeleuchtet hätte, wenn er nicht das tiefe Dunkel seiner geistigen Umnachtung mit dem Lichte seiner Augen hinweggenommen hätte, so hätte dieser Sohn niemals das leuchtende Antlitz Gottes schauen können. „Er erblickte ihn von ferne und ward von Mitleid gerührt.“ Von Mitleid wird er bewegt, er, der in keiner Weise eine örtliche Bewegung erleidet. „Er eilte herbei“, nicht durch eine körperliche Bewegung, sondern von dem Drange der Liebe getrieben. „Und fiel ihm um den Hals“, nicht durch das Gewicht des Herzens, sondern durch die Kraft des liebevollen Mitleids. „Er fiel ihm um den Hals“, um den Darniederliegenden aufzurichten. „Er fiel ihm um den Hals“, um durch die Größe seiner Liebe die Last der Sünden hinweg zunehmen. „Kommet zu mir“, heißt es ja, „ihr alle, die ihr mühselig und beladen seid. Nehmt mein Joch auf euch; denn mein Joch ist leicht“6 . Seht, dass der Sohn durch diese Last seines Vaters nicht beschwert, sondern erleichtert wird! „Er fiel ihm um den Hals und küßte ihn.“ Das ist das Gericht des Vaters: seine Verzeihung. Er gibt dem sündigen Sühne Küsse, keine Schläge. Denn die Liebe ist so stark, daß sie die Sünden nicht sieht! Und da rum tilgt der Vater durch den Kuß dem Sohne die Sünden, er schließt ihn in seine Umarmung ein, damit nicht der Vater des Sohnes Vergehen wieder aufdecke, der Vater den Sohn S. 211nicht wieder entehre! So heilt der Vater des Sohnes Wunden, damit dem Sohne nichts von einer Narbe, nichts von einem Male bleibt: „Selig“ heißt es, „deren Missetaten vergeben, deren Sünden bedeckt sind“7 .
Wenn die Tat dieses Sohnes unser Mißfallen erregt, wenn wir uns entsetzen ob seines Wegganges von seinem Vater, dann wollen wir uns niemals leichtsinnig von einem solch guten Vater scheiden. Das Auge des Vaters vertreibt die Frevel, hält ab von uns jeden Schaden, bannt jede Ruchlosigkeit und jede Verführungskunst. Und wenn wir uns auch von ihm losgesagt, wenn wir auch das ganze Vermögen des Vaters durch ein schwelgerisches Leben vergeudet, wenn wir jemals irgendeine Freveltat oder eine Schandtat begangen haben, ja wenn wir ganz den Gipfel der Gottlosigkeit erstiegen haben und ganz dem Untergang verfallen sind: erheben wir uns doch wenigstens und kehren wir doch, ermuntert durch solch ein Beispiel, zu solch einem Vater zurück! „Als er ihn erblickte, ward er von Mitleid gerührt, eilte herbei, fiel ihm um den Hals und küßte ihn.“ Ich frage: Wo ist jetzt wohl noch eine Anschuldigung? Wo noch ein Vorwand zur Furcht? Es müßte denn auch das Entgegenkommen [des Vaters] in uns Furcht auslösen; es müßte der Kuß uns erschrecken, die Umarmung uns verwirren; wir müßten glauben, dass der Vater uns in die Arme nimmt, um sich an uns zu rächen, nicht um uns zu verzeihen, wenn [wir sehen, dass] er seinen Sohn bei der Hand nimmt, ihn an sein Herz drückt, ihn mit seinen Armen umfängt! Aber einen solchen Gedanken, der das Leben zerstört und uns die Rettung raubt, nimmt uns vollständig weg, was nun folgt: „Der Vater aber sagte zu seinen Knechten: 'Holt schnell das beste Kleid herbei und zieht es ihm an, und gebt ihm einen Ring an seine Hand und Schuhe an seine Füße, und holt das Mastkalb und schlachtet es! Und wir wollen essen und schmausen; denn dieser mein Sohn war tot und lebt wieder auf; er war verloren und ward gefunden'“8 .
S. 212Wenn wir dies hören: Was zögern wir noch? Wollen wir noch nicht zurückkehren zum Vater? „Holt schnell das beste Kleid herbei und zieht es ihm an“. Die Vergehen des Sohnes ertrug er, aber nicht seine Blöße. Darum wollte er, dass der Sohn eher von den Sklaven bekleidet als gesehen werde; der Vater allein sollte seine Blöße sehen; denn nur ein Vater kann des Sohnes Blöße nicht sehen9 Der Vater, der nicht litt, dass der sündige Sohn in geringeren Kleidern sei, will ihm mehr Freude aus der Verzeihung als aus der Gerechtigkeit zuteil werden lassen. „Holt schnell das beste Kleid herbei.“ Er fragt nicht: Woher kommst du? Wo warst du? Wo ist das, was du mitgenommen hast? Warum hast du deinen himmlischen Ruhm mit solcher Schmach vertauscht? Sonders: „Holt schnell das beste Kleid herbei und zieht es ihm an.“ Ihr seht, die Macht der Liebe kennt keine Sünden10 ; der Vater kennt keine zaudernde Barmherzigkeit. Wer sich ergeht in langen Redereien über die Vergehen, deckt diese wieder auf. „Und gebt ihm einen Ring an seine Hand.“ Die Vaterliebe ist nicht zufrieden damit, ihm nur Befreiung von der Schuld zu verleihen, sondern sie ruht nicht, bis sie ihm auch die frühere Ehrenstellung wieder zurückgegeben hat. „Und gebt ihm Schuhe an seine Füße.“ Wie arm kam der zurück, der so reich davongezogen war! Von dem ganzen Vermögen brachte er nicht einmal Schuhe an seinen Füßen zurück! „Gebt ihm Schuhe an seine Füße.“ Auch sei nen Füßen sollte nicht bleiben die entehrende Blöße; denn er sollte neubeschuht wieder wandeln auf den Pfaden des früheren Lebens. „Und holt das Mastkalb herbei.“ Ein gewöhnliches Kalb genügt nicht, es muß ein fettes, ein gemästetes sein. Denn das fette Kalb zeigt an die Fülle der väterlichen Liebe. „Und holt das Mastkalb herbei und schlachtet es! Und wir wollen essen und schmausen; denn dieser mein Sohn war tot und lebte wieder auf; er war verloren und ward gefunden.“
S. 213Noch reden wir über die Worte der Erzählung und schon denken wir daran, das tiefe Geheimnis zu lüften. Der tote Sohn wird zum Leben erweckt durch den Tod des Kalbes. Das eine Kalb wird geschlachtet zur Ernährung der ganzen Familie11 . Doch müssen wir dies noch verschieben, um vorher den tief eingewurzelten Schmerz und die noch tiefer eingewurzelte Scheelsucht des älteren Bruders zu beleuchten.
