Fünfunddreißigster Vortrag: Über die Stelle: „Wem ist das Reich Gottes gleich und womit soll ich es vergleichen? Das Himmelreich ist gleich einem Senfkörnlein...“ bis: „und die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen.“ Lk 13,18-19
Ihr habt heute gehört, Brüder, wie das ganze große Himmelreich verglichen wird mit einem Senfkörnlein. S. 195Und wie ist es möglich, dass ein so kleines, ja das kleinste der kleinsten Dinge vergleichend in sich schließen kann eine so gewaltige Macht? „Wem ist das Reich Gottes gleich, und womit soll ich es vergleichen?“1 . Wenn er sagt: „Wem ist es gleich?“, so zeigt er und bekundet ein Verlangen wie einer, der fragt. Und er, der doch allein das Wort, die Quelle der Weisheit, der Fluß der Rede ist, er, der die Herzen aller auftauen macht2 , ihren Sinn aufschließt, ihren Geist weitet: er müht sich ab, ein Gleichnis zu finden? [Wie ist das zu verstehen?] Doch laßt uns hören, was er gefunden hat! „Das Himmelreich“, heißt es, „ist gleich einem Senfkörnlein“3 . Wie? Indem er im Himmel und auf der Erde sucht, findet er nur das Senfkörnlein, in das er die ganze Macht der himmlischen Herrschaft einschließen kann? Und dieses Reich, machtvoll durch seine Einzigkeit, glücklich durch seine Ewigkeit, leuchtend durch seine Göttlichkeit, ausgebreitet über den ganzen Horizont und umspannend die ganze Erde dieses Reich schließt und engt4 er ein in den kleinen Raum eines Senfkörnleins? „Das Himmelreich ist gleich einem Senfkörnlein.“ Ist das denn die ganze Hoffnung der Gläubigen? Ist das denn der Gipfel der Erwartung der Getreu en? Ist das denn das Glück der Jungfrauen, das sie sich erworben durch eine so lange und mühevolle Enthaltung? Ist das denn die Herrlichkeit der Märtyrer, die sie erworben durch die Hingabe all ihres Blutes? Ist das denn jenes [Reich], „das kein Auge gesehen, von dem kein Ihr gehört, das in keines Menschen Herz gekommen ist“?5 . Ist das denn jenes [Reich], das der Apostel denen verspricht, die Gott lieben, als sei es ihnen bereitet durch ein unaussprechliches Geheimnis?6 .
Brüder! Wir dürfen uns nicht so leicht aufregen lassen durch diese Worte des Herrn! Denn „wenn das Schwache an Gott stärker ist als die Menschen, und wenn S. 196das Törichte an Gott weiser ist als die Menschen“7 , so wird dieses Kleinste an Gott durch die ganze Größe der Welt um so herrlicher erfunden werden, wenn wir nur dieses Senfkörnlein so in un seren Geist einsäen, dass es wachse für uns zum großen Baume der Erkenntnis, wenn nur unser Sinn sich in seiner ganzen Größe erhebt zum Himmel und sich [dann] verbreitet auf alle Zweige der Wissenschaft, wenn es so entzündet unseren glühenden Gaumen durch den lebendigen Saft seiner Frucht, wenn es so glüht in uns mit dem ganzen Feuer seines Samens und unser Inneres entflammt, wenn es nur, sobald wir davon kosten, austreibt aus uns all unsere Lauheit und Unwissenheit! „Das Himmelreich ist gleich einem Senfkörnlein, das jemand nahm und in seinen Garten säte. Und es wuchs und ward zu einem großen Baume, und die Vögel des Himmels nisteten in seinen Zweigen“8 . Einem Senfkörnlein ist, wie es heißt, gleich das Reich Gottes, das uns gebracht wird aus der Höhe durch das Wort, aufgenommen wird durch das Ohr, gesät wird im Glauben, ausgerottet wird durch den Unglauben, wächst durch die Hoffnung, sich weitet durch das Bekenntnis, sich ausdehnt durch die Tugend und sich ausbreitet auf die Zweige, in die es hineinruft die Vögel des Himmels, d. h. die Sinne des Geistes, und sie in ihnen aufnimmt in ruhige Wohnungen. Komme doch, komme, du Irrlehrer9 ; denn zu jeder Zeit steht der Eintritt im die Kirche den Zurückkehrenden offen. Komme doch, höre und laß ab, gegen die Liebe deines Herrn zu eifern! Wenn die große Herrlichkeit des himmlischen Reiches sich mit einem Senfkörnlein vergleichen läßt, was fragt dann [der Mensch noch], warum Gott zum Menschen, der Herr in der Gestalt eines Knechtes sich herabgelassen hat? In einer solchen Gestalt kam er, du Ketzer, damit dir alles im Glauben erwachse, da dir alles abgefallen war durch die Natur. S. 197„Das Himmelreich ist gleich einem Senfkörnlein.“ Laßt uns wieder zurückkehren zu dem Senfkörnlein. Denn so bleibt und besteht die ganze Höhe des Reiches im Reich des Himmels. Christus ist das Himmelreich, er, der gleichsam als ein Senfkörnlein in den Garten des jungfräulichen Leibes gesät wurde, heranwuchs zu dem Baum des Kreuzes über die ganze Welt und, da er im Leiden zerschlagen wurde, den vollen Saft seiner Frucht spendete, um alles, was Leben hat, mit seiner Berührung zu betauen und zu würzen. Denn wie die Kraft des Senfkörnleins verborgen ist, so lange es unver sehrt ist, seine Kraft aber ganz gewaltig erscheint, wenn es zerrieben ist, so wollte auch Christus seinem Leibe nach zermalmt werden, da er nicht wollte, dass seine Kraft verborgen bleibe.
Brüder! Auch wir wollen dieses Senfkörnlein zerreiben, damit auch wir in diesem Gleichnis seine Kraft erfahren! Christus ist der König, weil er ist die Quelle aller Herrschaft. Christus ist das Reich, weil in ihm besteht die ganze Herrlichkeit des Reiches. Christus ist der Mensch, weil die ganze Menschheit erneuert wird in Christo. Christus ist das Senfkörnlein, an dem die ganze Größe Gottes so klein erscheint in der ganzen Kleinheit des Menschen. Und wozu noch mehr? Alles ist er geworden, um in sich alles zu erneuern. Christus, der Mensch, nahm das Senfkörnlein, d. h. das Reich Gottes nahm der Mensch Christus, was er als Gott immer besaß. Er warf es in seinen Garten, d. h. in die Kirche, seine Braut. Dieser Garten wird erwähnt im Hohen Liede, wo es heißt: „Ein verschlossener Garten“10 . Die Kirche ist der Garten, der wohlgepflegt ausgebreitet ist über die ganze Erde durch die Pflege des Evangeliums, der umschlossen ist durch die Zäune der Zucht, der gereinigt ist von allem schlechten Unkraut durch die Arbeit der Apostel, der geschmückt ist durch die Früchte der Gläubigen, die Lilien der Jungfrauen, die Rosen der Märtyrer, das Grün der Bekenner, der duftet durch die Blumen der Ewigkeit. Dieses S. 198Senfkörnlein also hat Christus in seinen Garten geworfen, d. h. durch die Verheißung seines Reiches. Tief eingelegt wurde es in die Patriarchen, in den Propheten ging es auf, empor trieb es in den Aposteln, zu einem großen Baume wurde es in der Kirche, durch seine Gnadengeschenke trieb es viele Zweige, die der Apostel aufzählt, wenn er sagt: „Dem einen wird durch den Geist Rede der Weisheit gegeben, einem anderen aber Rede der Wissenschaft nach demselben Geiste, einem anderen Glaube in demselben Geiste, einem anderen Gnade zu Heilungen durch denselben Geist, einem anderen Wunderwirkung, einem anderen Weissagung, einem anderen Unterscheidung von Geistern, einem anderen mancherlei Sprachen“11 .
Ihr habt gehört, Brüder, zu welchem Baume jenes Senfkörnlein empor trieb. Ihr habt gehört, welche Wurzeln es schlug. Ihr habt gehört, in welche Äste es sich weitete und verzweigte, in denen die Vögel des Himmels, nicht die der Luft, ruhig wohnen unter dem Schutze des Glaubens und hin und her fliegen mit dem Gefieder der Weisheit und der Klugheit. Und auch du höre! Wenn du nicht fürchten willst die wilden Tiere der Erde, wenn du den räuberischen Vögeln, den gefräßigen Geiern, d. h. den Vögeln der Luft, die da sind die Geister der Bosheit, aus dem Wege gehen willst, dann erhebe dich von der Erde, laß hinter dir die irdische Welt, nimm dir die silbernen Flügel der prophethischen Taube12 , nimm dir die Flügel, die da glänzen von dem Strahl der göttlichen Sonne; fliege auf im Glanze des Goldes, damit du unter dem Schutze so vieler und so guter Zweige von keiner Fessel mehr beengt, ausruhen mögest auf immer, stark durch solchen Flug und sicher unter solchem schützenden Dach! Über das andere Gleichnis wollen wir unter der Belehrung durch den Herrn reden in einer folgenden Predigt.
