Vierunddreißigster Vortrag: Über dieselbe Stelle: Lk 7,36-47
Alles, was von Christi leiblichen Taten berichtet wird, ist so mit historischer Wahrheit verbunden, dass stets auch eine Fülle von himmlischen Geheimnissen darin enthalten ist. Und weil wir, was an der Oberfläche der Lesung lag, schon in zwei Reden behandelt haben, so betet nun, dass wir auch das, was innerlich verborgen ist, unter Erleuchtung des Hl. Geistes enthüllen, wie wir es versprochen haben! Unehrerbietig wäre ja eine Redeweise, die Gottes Taten nur nach menschlicher Erklärungsart darlegen wollte. „Ein Pharisäer“, heißt es, „bat den Herrn, bei ihm zu essen“1 . Brüder! Der Pharisäer gilt bei den Juden als der Rechtgläubige. Denn er glaubt an die Auferstehung und weicht hierin von dem Sadduzäer ab, der die Auferstehung leugnet. Das ist der Grund, warum er Christum, den Urheber der Auferstehung, bittet, bei ihm zu essen. Denn wer mit Christus zusammenlebt, kann nicht sterben, wird vielmehr ewig leben2 . S. 191„Er bat den Herrn, bei ihm zu essen.“ Pharisäer, du bittest [um die Gnade], dass du mit ihm issest; glaube, sei ein Christ, und du ißt mit ihm! „Ich bin“, heißt es, „das Brot, das vom Himmel herabgestiegen ist“3 . Immer verleiht Gott mehr, als er gebeten wird; denn er gab sich zur Speise, er, der gebeten wurde, die Gnade zu verleihen, dass [wir] mit ihm essen. Und doch gab er dies auch noch so, dass er das nicht verweigerte, um was er gebeten war. Und verspricht er dies nicht auch seinen Jüngern? „Ihr, die ihr mit mir ausgeharrt habt, werdet essen und trinken an meinem Tische in meinem Reiche“4 . Mein Christ! Er, der sich dir zur Speise gab, was wird er dir verweigern in Zukunft? Und er, der dir eine so große Wegzehr bereitete zur Nahrung deines Lebens, was hat er dir nicht bereitet in jener ewigen Wohnung? „Ihr werdet essen an meinem Tische in meinem Reiche!“ Du hast gehört von dem Gastmahl Gottes, sei nicht bekümmert über seine Art und Weise! Wer gewürdigt ist, zum Tische des Königs zu gelangen, wird essen, was der König besitzt in seiner Macht und Herrlichkeit. So wird, der gekommen ist zu dem Gastmahl des Schöpfers, zu seiner Wonne alles haben, was immer in der ganzen Schöpfung sich befindet!
Doch wir wollen auf den Anfang zurückkommen! „Und er trat ein in das Haus des Pharisäers“5 . In welches Haus? In die Synagoge; in sie tritt er hinein und legt sich nieder. In der Synagoge, Brüder, legte sich Christus nieder, als er im Tode erlag6 ; seinen Leib aber legte er auf den Tisch der Kirche, damit er sei ein himmlisches Fleisch für die Heiden, die davon essen sollen zum Heile: „Wenn ihr das Fleisch des Menschensohnes nicht essen und sein Blut nicht trinken werdet, werdet ihr das Leben nicht in euch haben“7 . Auf welche Weise aber das Fleisch Christi genossen, auf welche S. 192Weise auch sein Blut getrunken wird, wissen diejenigen, die eingeweiht sind in die himmlischen Sakramente8 . „Siehe“, heißt es dann weiter, „ein Weib, das in der Stadt eine Sünderin war“9 . Welches Weib? Die Kirche ohne Zweifel. „In der Stadt eine Sünderin.“ In welcher Stadt? In jener, von der der Prophet gesagt hatte: „Wie ist zur Buhlerin geworden die treue Stadt Sion?“10 . Und an ein er anderen Stelle: „Ich sah Gewalttat und Hader in der Stadt. Und Gottlosigkeit und Mühsal und Ungerechtigkeit ist in ihrer Mitte, und von ihren Plätzen weicht nicht Wucher und Betrug“11 . In der Stadt also, die von den Türmen des Stolzes beschützt, von den Mauern des Unglaubens umgeben, von den Wegen der Gottlosigkeit durchkreuzt ist, die verschlossen ist durch die Tore des Haders, übertüncht ist von dem falschen Glanze des Betruges, schwer beladen ist mit den Seinen des Wuchers, beschwert ist von den Mühen des Handeltreibens, verrufen ist durch die Häuser der Wollust, d. h. die Tempel der Götzen: dies Weib, d. i. die Kirche, schöpft die übergroße Schuld aus dem übergewaltigen Zusammenfluß der voraufgegangenen Laster. Aber sobald sie hörte, dass Christus gekommenm sei in das Haus des Pharisäers, d. h. in die Synagoge, dass er dort, d. h. bei dem jüdischen Paschafeste, die Geheimnisse seines Leidens übergeben, das Sakrament seines Leibes und Blutes erschlossen, das Geheimnis unserer Erlösung uns geoffenbart habe, brach sie, nicht achtend der Schriftgelehrten, dieser fluchwürdigen Torwächter „Wehe euch, ihr Gesetzeskundigen, die ihr den Schlüssel der Erkenntnis wegnahmt“12 , durch die Pforten der Widersprüche, verachtete selbst die Ehrenplätze des pharisäischen Festmahles, und kam brennend, keuchend, glühend hin bis in das Innerste des gesetzlichen Mahles und fand dort Christum beim Mahle der S. 193Liebe und bei den süßen Bechern, verraten, gemordet durch die List der Juden nach den Worten des Propheten: „Wenn mein Feind mich verflucht hätte, so wollte ich es wohl ertragen; und wenn der, welcher mich haßt, stolze Reden wider mich geführt hätte, so wollte ich mich wohl vor ihm verbergen. Aber du, sonst ein Herz mit mir, mein Führer und mein Vertrauter, der du zugleich mit mir süße Speise genossen: einträchtig wandelten wir in das Haus Gottes!“13 .
„Als sie [das Weib] vernommen hatte, dass der Herr im Haus des Pharisäers zu Tische liege“14 ,d. h. in der Synagoge durch vollen Betrug, verurteilt durch so große List, dass er gelitten habe, gekreuzigt und begraben worden sei, ließ sie sich dennoch, in der Glut ihres Glaubens, auch durch so große Schmach nicht zurückhalten, sondern bringt Salböl, bringt das Öl des christlichen Chrismas herbei. Und weil sie das leibliche Antlitz Christi nicht schauen durfte, steht sie rückwärts, nicht örtlich, sondern zeitlich. Sie heftet sich an seine Ferse, um ihm zu folgen. Und nunmehr preßt ihr Verlangen ihr die Tränen aus als ihr Schuldbewußt sein, damit sie den, den sie bei seinem Scheiden zu sehen nicht gewürdigt war, sehen könne, wenn er wiederkäme. Tränen also aus reicher Liebesflut vergießt sie zu den Füßen des Herrn, indem sie die Füße derer, die sein Reich verkünden, umfängt mit den Armen der guten Werke, sie badet mit den Tränen der Liebe, sie küßt mit den Lippen des Bekenntnisses. All das Salb öl der Barmherzigkeit gießt sie aus, bis er sich zu ihr hinwendet wie: hinwendet? d. h. zurückgekehrt15 und zu Simon, zu den Pharisäern, zu den Leugnern, zu dem Volke der Juden spricht: „Ich bin in euer Haus gekommen, und ihr habt keim Wasser meinen Füßen gegeben!“ Und wann wird er so sprechen? Wenn er kommen wird in der Herrlichkeit sei nes Vaters, die Gerechten scheiden wird von den Ungerechten, wie ein Hirt die Schafe von den Böcken scheidet, und sprechen wird: „Ich war hungrig S. 194und ihr gabt mir nicht zu essen; ich war durstig, und ihr gabt mir nicht zu trinken; ich war ein Fremdling, und ihr nahmt mich nicht auf!“16 . Dies meinte er, wenn er sagte: „Wasser für meine Füße habt ihr mir nicht gegeben.“ Indem dies Weib aber den Meinigen die Füße wäscht, die Füße salbt, die Füße küßt, tut es den Knechten, was ihr dem Herrn nicht getan habt; es tut so an den Füßen, was ihr dem Haupte verweigert; es er weist so den geringsten Geschöpfen, was ihr eurem Schöpfer vorenthaltet.
Dann wird er zur Kirche sprechen:„Dir werden die vielen Sünden vergeben, weil du viel geliebt hast.“ Denn dann wird stattfinden die Vergebung der Sünden, wenn hinweggenommen ist jeder Stoff zur Sünde, wenn die Verweslichkeit anziehen wird die Unverweslichkeit, wenn die Sterblichkeit sich erworben haben wird die Unsterblichkeit, wenn das Fleisch der Sünde umgestaltet ist in das Fleisch voller Heiligkeit, wenn irdische Knechtschaft verwandelt ist in himmlische Herrschaft, wenn menschlicher Soldatendienst verklärt sein wird in göttliche Herrscherwürde. Betet, Brüder, dass auch wir auf die Seite der Kirche gestellt, gewürdigt werden hinzugelangen zu dem, was wir soeben erzählt haben, durch die Gnade Christi, unseres Schöpfers selbst, dem Ehre und Ruhm sei zugleich mit dem Hl. Geiste von Ewigkeit zu Ewigkeit! Amen.
