Einunddreißigster Vortrag: Über die Stelle: „Im sechsten Monat ward der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa mit Namen Nazareth zu einer Jungfrau...“ bis: „da sie dies hörte, erschrak sie und dachte nach, was wohl dieser Gruß bedeute.“ Lk 1,26-29
Möchte doch die Sehkraft unserer Augen rein genug sein, damit sie eindringen könne in den Lichtglanz der Geburt eines Gottes! Denn wenn unser ganz gesundes und reines Auge den Glanz der aufgehenden Sonne kaum zu ertragen vermag, um wieviel mehr müssen wir die Sehkraft unseres inneren [Auges] bereiten, damit es die Lichtfülle der leuchtenden Geburt des Schöpfers selbst ertragen könne! „Im sechsten Monat“, heißt es, „ward der Engel Gabriel von Gott gesandt in eine Stadt in Galiläa mit Namen Nazareth zu einer Jungfrau, die mit einem Manne namens Joseph verlobt war“1 . Der Evangelist nennt Ort, Zeit und Person, damit die Wahrheit seines Berichtes bestätigt werde durch die klaren Umstände der Tatsachen. „Es ward ein Engel“,heißt es, „zu einer Jungfrau gesandt, die verlobt war.“ Zu einer Jungfrau wird von Gott ein beflügelter Bote gesandt: er soll S. 177überbringen der Verlobung Preis und mitnehmen die Mitgift, weil er die Gnade bringt; er soll das Jawort entgegennehmen und die Geschenke übergeben für ihre Tugend, indem er gleich das Gelöbnis der jungfräulichen Zustimmung wieder löst. Schnell fliegt zur Braut hinab der Vermittler, um von der Gottesbraut abzuhalten die Neigung zu einer menschlichen Verlobung, nicht um dem Joseph die Braut zu rauben, sondern um sie Christo wiederzugeben, dem sie schon im Mutterschoße vom Beginn ihres Daseins verpfändet war. Christus also er hält seine Braut wieder zurück, nicht raubt er sich eine fremde; nicht trennt er, wo er sich nur mit dem ihm ganz eigenen Geschöpfe in einem Leibe verbindet. Doch laßt uns hören, was der Engel [mit ihr] verhandelte. „Er trat zu ihr ein und sprach: 'Sei gegrüßt, du Gnadenvolle! Der Herr ist mit dir!'“2 . In diesem Worte liegt eine Übergabe, die Darbringung eines Geschenkes, es ist nicht ein bloßer Gruß. „Ave“3 , d. h. empfange Gnade; zittere nicht, sei nicht besorgt in deiner menschlichen Natur!
„Gnadenvolle!“ Denn wenn auch in anderen Gnade ist, über dich wird sich die ganze Fülle der Gnade zumal ergießen! „Der Herr ist mit dir!“ Was heißt das: „Der Herr ist in dir?“ Nicht bloß in Huld dich heimzusuchen, kommt er zu dir, sondern auf dich läßt er sich hernieder in dem unerhörten Geheimnis einer Geburt! Und bezeichnend füge er noch hinzu: „Du bist gebenedeit unter den Weibern“. Denn denen, deren Mutterschoß die Verurteilung der Eva bestrafte, gibt die Lobpreisung der Maria Freude, Ehre und Ruhm! Und so ward das Weib [jetzt] in Wahrheit zur Mutter des Lebens durch Gnade, während es vorher war die Mutter des Todes durch die Natur. „Als sie dies hörte“, heißt es dann, „erschrak sie über diese Anrede“4 . Wie kommt es, dass sie, obwohl S. 178sie die Person des Engels sieht, doch über seine Rede erschrickt? Weil ein Engel zu ihr gekommen war, reizend von Gestalt, der stark ist im Kriege, gelassen in der Haltung, der furchtbar ist in der Rede, der mit menschlicher Stimme redete und Göttliches verkündete! Daher verwirrte auch die Jungfrau, die der Anblick [des Engels] nur wenig erschreckte, doch allzusehr seine Anrede. Und sie, die von der Gegenwart des Boten nur wenig erregt ward, wurde nun ganz und gar erschüttert von der furchtbaren Majestät dessen, der ihn gesandt hatte.
Und ferner! Alsbald fühlte sie, dass sie in sich empfangen habe den göttlichen Richter, sobald sie seinen himmlischen Wegbereiter gesehen und betrachtet hatte. Denn wenn auch mit reizendem Antrieb und mit anmutiger Liebe Gott die Jungfrau zur Mutter, der Herr die Magd zu seiner Gebärerin erhob, so erschrak doch ihr Inneres, schwanden ihre Sinne, bebte ihre ganze Natur, als der Gott, den die ganze Schöpfung nicht fassen kann5 , unter ihrem menschlichen Herzen sich barg und einschloß! „Sie dachte nach“, heißt es, „was wohl dieser Gruß bedeute“6 . Eure Liebe beachte, dass, wie wir oben gesagt haben, die Jungfrau nicht einem Gruße vom bloßen Worten, sondern von tiefem Inhalte7 zustimmte, dass jenes Wort nicht eine gewöhnliche Höflichkeitsformel war, sondern die ganze Fülle der göttlichen Allmacht in sich schloß. Die Jungfrau besinnt sich, weil schnell antworten ein Zeichenmenschlichen Leichtsinns ist, besinnen aber ein Zeichen hohen Ernstes und reifen Urteils. Wie groß Gott ist, weiß der nicht, der vor dem Geist dieser Jungfrau nicht staunt, der ihre Seele nicht bewundert! Der Himmel bebt, die Engel zittern, die Schöpfung hält nicht stand, die Natur erträgt es nicht, und eine einzige S. 179Jungfrau empfängt, nimmt auf, entzückt diesen Gott in der Wohnung ihres Herzens, um hierdurch der Erde den Frieden, dem Himmel die Ehre, den Verlorenen das Heil. den Toten das Leben, den Irdischen den Schutz der Himmlischen, ja den Verkehr Gottes selbst mit den Menschen zu verlangen, gleichsam als Miete für ihre Wohnung selbst, als Lohn für ihre Mutterwürde es zu fordern, um so das Wort des Propheten zu erfüllen: „Siehe, das Erbe des Herrn sind Söhne, Lohn ist die Frucht des Leibes“8 . Doch nun wollen wir die Rede schließen, um über die Geburt aus der Jungfrau unter dem Beistande Gottes, und wenn es die Zeit gestattet, zu noch größerem Nutzen sprechen zu können!
