Sechsunddreißigster Vortrag: Über die Stelle: „Ein Mensch hatte zwei Söhne. Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater:'Vater, gib mir den Anteil des Vermögens, der mir zukommt...'“ bis: „und niemand gab sie ihm.“ Lk 15,11-16
S. 199Heute führt uns der Herr die Geschichte eines Vaters und seiner beiden Söhne lebendig vor Augen, um in einem schönen Beispiel sowohl uns einen großen Beweis seiner Liebe zu geben, als auch den wütenden Neid des jüdischen Volkes und schließlich die reumütige Rückkehr des christlichen Volkes zu veranschaulichen.1 „Ein Mensch hatte zwei Söhne. Und der jüngere von ihnen sprach zu dem Vater: 'Vater, gib mir den Anteil des Vermögens, der mir zukommt'. Da teilte er“,heißt es, „unter beide das Vermögen“2 . So groß die Liebe des Vaters, so groß ist auch die Ungeduld des Erben: er erträgt nur schwer, dass der Vater noch lebt; und da er diesem das Leben nicht nehmen kann, sucht er ihn gierig das Vermögen zu entreißen. Er war nicht wert, den Ehrennamen „Sohn“ zu tragen, der das, was dem Vater gehörte, nicht mit dem Vater besitzen wollte. Doch laßt uns untersuchen, was den Sohn hinrieß zu solchem verwegenen Beginnen, welche Absicht ihn trieb zu dieser Forderung! Welcher Grund [war es]? Doch nur der, dass er wußte, dass der himmlische Vater3 durch kein Lebensende begrenzt, durch keine Zeit beschränkt, durch keine Todes macht bezwungen werden könne. Und deshalb S. 200suchte er sich der Freigebigkeit des Lebenden4 zu erfreuen, da er sich mit dem Vermögen des Toten nicht bereichern wollte. Wie schwer auch die Beleidigung war, die in dieser Forderung lag, sie bewies die Freigebigkeit des Vaters. „Er teilte“ heißt es, „unter beide das Vermögen.“ Einer nur stellte die Forderung, und er teilte sofort unter beide das ganze Vermögen. Denn die Söhne sollten wissen, dass der Vater das, was er vorher zurückbehielt, nicht aus Geiz, sondern aus Liebe zurückbehielt, dass er es aus Vorsorge, nicht aus Neid bewahrte. Der Vater suchte5 das Vermögen für die Söhne zu bewahren, nicht aber wollte er es ihnen vorenthalten. Er wünschte ja, dass es seinen Lieblingen erhalten bleibe, nicht aber, dass es ihnen verloren gehe. O wie glücklich sind die Söhne, deren ganzer Reichtum beruht in der Liebe eines Vaters!
O wie glücklich6 , deren ganzer Besitz besteht in dem Gehorsam gegen den Vater, in der Pflege der Liebe gegen den Vater! Sonst ja zerreißt der Reichtum die Einheit, er bringt Spaltungen unter die Brüder, trennt die Verwandten, vernichtet und löst das Liebesband der Blutsverwandten, wie aus dem folgenden hervorgeht. „Vater gib mir den Anteil des Vermögens, der mir zukommt. Und er teilte“, heißt es, „unter beide das Vermögen. Und wenige Tage später nahm der jüngere Sohn alles zusammen, zog fort in ein fernes Land und brachte da sein Vermögen durch, indem er schwelgerisch lebte. Und nachdem er alles verschwendet hatte, entstand eine große Hungersnot in jenem Lande, und er selbst fing an zu darben. Und er ging und verdingte sich einem Bürger jenes Landes, und der schickte ihn auf sein Landgut, die Schweine zu hüten. Und er wünschte seinen Magen zu füllen mit den Schoten, die die Schweine fraßen, und niemand gab sie ihm“7 . Seht da, was die Begierde bewirkt, die wilde Gier nach Geld! S. 201Seht da, wie das Geld ohne den Vater den Sohn gänzlich beraubt statt ihn reich zu machen!8 . Denn das Geld riß den Sohn aus der Umarmung des Vaters, trieb ihn aus dem Hause, beraubte ihn des Vaterhauses, der Ehre und der Keuschheit. Alles, Lebensfreude, Gesittung, Liebe, Freiheit, Ehre alles ließ er hinter sich. Den Bürger macht das Geld zum Fremdling, den Sohn zum Mietling, den Reichen zum Bettler, den Freien zum Sklaven. Den Schweinen gesellt es den zu, der sich von dem liebevollen Vater losgerissen hatte, und so mußte er den schmutzigen Tieren seine Dienste erweisen, er, der heiliger Güte zu gehorchen sich sträubte.
„Der jüngere Sohn nahm alles zusammen.“ Er war der Jüngere, wahrlich nicht wegen seines Alters, sondern wegen seines [unreifen] Verstandes. Er nahm den Reichtum seines Vaters zusammen und zog weit weg, nicht so sehr räumlich, als der Gesinnung nach [entfernte er sich], um sich zu verkaufen der Knechtschaft für den Preis, den er nicht empfangen, sondern den er sich genommen hatte. Zu solch [unwürdigem] Vertrag verkaufte er sich9 , zu solchem Vertrage kommt er, da er nicht versteht, den Eltern die schuldige Liebespflicht zu leisten, dem Vater den Wechsel [der Liebe] einzulösen. Ja, im Vaterhaus ist süß das Leben, frei die Knechtschaft, gelöst sind hier die Fesseln, froh ist die Furcht, süß die Strafe, reich die Armut, sicher der Besitz. Denn dem Vater bleibt die Mühe, die Frucht strömt überreich auf die Söhne. „Er brachte“, heißt es, „sein ganzes Vermögen durch.“ Was des Vaters weise Sorge zusammengeschafft, das zerstreut des Sohnes Verschwendung, damit er, wenn auch spät, erkenne, dass der Vater ein Schatzbewahrer, nicht ein Schatzbelagerer10 gewesen sei. „Indem er schwelgerisch lebte.“ Ein Leben, das zum Tode führt, ist solch ein Leben, in dem die Tugend stirbt. Wer dem Laster sein Leben weiht, geht zugrunde an Ruhm und Ehre. Wer S. 202in der Schmach bleibt, nährt sich von Schande. „Und nachdem er alles verschwendet hatte, entstand eine große Hungersnot in jenem Lande.“ Der Schwelgerei, dem Bauchdienste, der Unmäßigkeit gesellt sich als Peiniger bei der Hunger, damit da die Strafe rächend wüte, wo die Schuld strafend entbrannt war. „Es entstand eine große Hungersnot.“ Auf ein solches Ende zielt immer ab die ungezähmte Genußsucht; zu solch einem Ende führt die elende, maßlos geübte Vergnügungssucht. „Und er selbst fing an zu darben.“ Das Vermögen, das er erhalten hat, läßt ihn nun darben, während es ihn reich gemacht hätte, wenn es ihm vorenthalten worden wäre. [So sollte er einsehen,] dass er in seinem Besitze Mangel leiden müsse, wie er anderseits Überfluß gehabt hätte, wenn er, ohne es zu besitzen, bei dem Vater geblieben wäre.
„Und er verdingte sich einem Bürger jenes Landes, und der schickte ihn auf sein Landgut, die Schweine zu hüten.“ So weit mußte der kommen, der dem Vater sich entzieht und sich einem Fremden verdingt! Er soll so den strengen Richter erkennen, da er geflohen war vor dem so liebevollen Verwalter. Er, der sich der Liebe entzog, der Güte sich entwand, wird den Schweinen zugesellt, den Schweinen zugezählt, dem Schweinedienst überliefert. Er muß mit den Schweinen die schmutzigen Weiden durchstreifen, er wird getreten und besudelt von der ruchlos umherschweifenden Herde. So soll er erkennen, wie elend, wie erbärmlich er handelte, dass er das hohe Glück des Vaterhauses sich verscherzte. „Und er wünschte seinen Magen zu füllen mit den Schoten, die die Schweine fraßen, und niemand gab sie ihm.“ O welch ein grausamer Dienst! Er, der nicht mit den Schweinen leben kann, obwohl er für die Schweine lebt! O der Unselige, der darbt und hungert um die schmutzigen Tiere zu mästen! O der Unselige, der gierig nach schmutziger Speise verlangt und sie nicht einmal erhält! S. 203Hierdurch belehrt und unterwiesen, laßt uns bleiben im Hause des Vaters, laßt uns immer bleiben im Schoße der Mutter, laßt uns umfangen von den Liebkosungen der Verwandten! Des Vaters Liebe soll uns an sich drücken, damit uns nicht der so beklagenswerte Freiheitsdrang schließlich in das Unglück stürze, das wir oben geschildert haben. Ehrfurcht vor dem Vater behüte uns, Liebe zur Mutter erfülle uns, verwandtschaftliches Liebesband bewahre uns! Denn unter den Augen unserer Lieben können Sünden nicht bestehen. So viel Augen der Verwandten, so viel Richter! Wie heller Tag leuchte uns entgegen das Antlitz der Mutter, wie die leuchtende Sonne erglänze uns das Auge des Vaters! Wer daher unter so vielen Tugendsonnen lebt, dem kann Sündennacht nicht nahen! Im Gegenteil: Der Tisch des Vaters nährt uns mit der Speise der Tugend, dem Mahle des Heils, den Leckerbissen der Ehre und des Ruhmes.
Aber weil der ausführliche Text unserer Lesung und zwingt, noch weiter uns über die Parabel zu verbreiten, wer der Vater sei, der so bereitwillig im Geben, der noch bereitwilliger ist im Wiederaufnehmen; wer der Bruder ist, der sich so sehr grämt über die Rettung des Bruders; wer der jüngere Sohn ist, der durch sein Scheiden so viel Unklugheit verriet, der aber so überaus weise ist in seiner Rückkehr so wollen wir, weil das Verlangen nach dieser Erkenntnis uns gemeinsam ist, dies in einem folgenden Vortrag behandeln.
Damit ist das Thema des ganzen Zyklus angegeben. ↩
Lk 15,11 f. ↩
Die Beziehung auf den himmlischen Vater ist nicht ohne weiteres verständlich, nur erklärlich durch den Gedanken des ganzen Zyklus. ↩
ich lese des Gegensatzes halber:viventis liberalitate statt videndi libertate ↩
statt tenebat ist tendebat zu lesen ↩
sind die Söhne ↩
Lk 15,12-16 ↩
Nudavit filium, non ditavit ↩
ich lese mit Januel mercatur statt mercator. ↩
Patrem custodem, non incubatorem fuisse substantiae. ↩
