Dreiunddreißigster Vortrag: Über die Stelle: "Ein Pharisäer bat ihn, bei ihm zu essen..." bis: "küßte seine Füße und salbte sie mit dem Salböl." Lk 7,36-38
Vielleicht möchte ein ängstlicher Zuhörer sich verwundern, dass Christus zu einem Gastmahl, und dazu noch zu dem Gastmahl eines Pharisäers gekommen sei. [Doch] Christus betrat das Haus des Pharisäers, nicht um dort jüdische Speise zu sich zu nehmen, sondern um seine göttliche Barmherzigkeit zu erweisen; er setzte S. 186sich nicht zu Tische, um Becher zu trinken, die mit Honig versüßt und mit duftenden Blumen bekränzt waren, sondern um zu trinken die Tränen der Sünderin aus den Quellen der Augen selbst; denn Gott dürstet nach den Seufzern der Fehlenden, dürstet nach den Tränen der Sünder. "Ein Pharisäer", heißt es, "bat ihn, mit ihm zu essen. Und er kam in das Haus des Pharisäers und setzte sich zu Tische. Und siehe, als ein Weib, das in der Stadt eine Sünderin war, vernommen hatte, dass er im Hause des Pharisäers speise, brachte sie ein Alabastergefäß mit Salböl, stellte sich rückwärts ihm zu Füßen, benetzte mit Tränen seine Füße und trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes und küßte seine Füße und salbte sie mit dem Salböl"1 . Ihr seht, dass Christus zu dem Tische des Pharisäers kam, nicht um sich zu sättigen an leiblichen Speisen, sondern um in seinem Leibe sein himmlisches Amt zu offenbaren; nicht um zu kosten, was Menschen ihm vorgelegt, sondern um in göttlicher Weise das, was hinter ihm vor sich ging, zu bekunden. Denn wir sehen immer, dass Christus durch menschliche Handlungen göttliche Wundertaten vollbringt, indem alles, was von ihm leiblich geschah, sich als neu und gegen die Gewohnheit der Sterblichen geschehen erwies. Ein Pharisäer ladet Christum zum Essen ein. Was sucht dabei ein Weib, das nicht eingeladen ist? Kein Fremdling bricht2 in ein verschlossenes Haus ein; wer nicht eingeladen ist, erkühnt sich nicht, den ihm verwehrten Speisesaal zu betreten; kein Genußsüchtiger wag es, das Mahl zu stören, das aufgetragen ist zur Erfrischung des durch die Arbeit müden Geistes. Wie kommt doch dieses unbekannte, ja nur unrühmlich bekannte Weib, in aschweren Trauerkleidern, aufgelöst in Tränen, aufschreiend in lautem Jammer, ungesehen vom Türhüter, ohne dass jemand es weiß, selbst von dem Gastgeber unbemerkt, wie kommt es hinein, dass es durchlaufen konnte alle Hallen des Hauses, dass es S. 187selbst durch alle Gemächer der Diener hin durcheilen konnte, ja selbst hinflieht zu dem verborgenen Speisesaal und das Haus der Freude verwandelt in ein Haus des Jammers und des Wehklagens? Brüder! Jenes Weib kam nicht ungerufen, sondern auf Befehl; sie trat aufgefordert ein, nicht durch eigene Anmaßung; denn jener hieß sie sich dort aufstellen, der durch himmlischen Machtspruch sie lossprechen wollte.
Und gerade als der Pharisäer in glänzendem Gewande, auf dem ersten Platze an der Tafel sich breitmachend, selbst noch vor den Augen Christi prahlend, sich den Genüssen des Mahles hingibt, um sich an den Speisen zu laben, um Menschen, nicht Gott zu gefallen, da erscheint das Weib, und zwar kommt es von rückwärts. Denn das schuldige Gemüt kommt immer rückwärts, um Verzeihung zuerlangen; denn es weiß ja, daß es durch seine Schuld das Recht verloren hat, das Antlitz vertrauensvoll zu erheben. [Das Weib] kam, um Gott genugzutun, nicht um den Menschen zu gefallen; sie kam, ein Mahl der Liebe, nicht der sinnlichen Freuden herzurichten, und darum rüstet sie ein Mahl der Buße, stellt die Gefäße der Reue auf, bringt herbei das Brot des Schmerzes, reicht in dem Becher den Trank der Tränen, und um die Gottheit ganz zu erfreuen, läßt sie die Stimme des Herzens und des Leibes in gleicher Weise ertönen, läßt als Orgeltöne ihr Klagegeschrei erschallen, ahmt die Zither nach durch langanhaltendes Seufzen, ihr Flehen gleicht den Klagetönen einer Flöte. Und während sie ihre Brust zerschlägt, um ihr Ge wissen zu züchtigen, läßt sie Jubeltöne erklingen, die Gott gefallen sollen, und indem sie so dem Auge Gottes eine Speise bereitete, trägt sie die ganze Fülle der Erbarmung davon. "Siehe, ein Weib, das in der Stadt eine Sünderin war." Der Evangelist betont besonders die Schandtat des Weibes, um die Größe der Güte des Begnadigers hervorzuheben. "In der Stadt eine Sünderin." In der Stadt hatte sie gesündigt, weil sie durch ihren schlechten Ruf den Ruf der ganzen Stadt angetastet hatte, und so war sie nicht nur selbst eine Sünde rin, sondern war S. 188die Sünde der Stadt selbst. Sie hatte erkannt, dass die Sünde der Stadt nur durch den allein hinweggenommen werden konnte, der gekommen war, die Sünden der ganzen Welt zu tilgen.
"Als sie vernommen hatte, dass der Herr im Hause des Pharisäers speise"3 . Die Sünderin wagt nicht zu dem Stehenden und nicht zu dem Sitzenden zu kommen; denn wenn Gott steht, so züchtigt er; wenn er sitzt, kommt er zum Gerichte. Aber mit den Darniederliegenden liegt er zusammen, wenn er zu Tische liegt4 . "Als sie vernommen hatte, dass der Herr im Hause des Pharisäers speise." Sie hat kennen gelernt, dass die göttliche Majestät geneigt sei zur Barmherzigkeit, und darum glaubte sie, dass er auch geneigt sei, ihr ebenso zu verzeihen, wie er bereit war, zu dem Gastmahl des Pharisäers zu erscheinen. "Sie brachte ein Alabastergefäß mit Salböl." Sie trug das Salböl, weil sie bei dem himmlischen Arzte Heilung für ihre Todeswunde suchte. "Stellte sich rückwärts ihm zu Füßen." Wer schnell Verzeihung sucht, eilt jeder Zeit zu den Füßen. Und ganz mit Recht heißt es "stehend", weil der nicht mehr fallen kann, der würdig war, zu den Füßen Christi zu kommen. "Stellte sich rückwärts ihm zu Füßen", um sich an die Fußsohlen Christi zu heften, um so den Weg des Lebens zu gehen, wie sie vorher gewandelt war auf dem Weg des Todes. "Benetzte mit Tränen seine Füße." Seht da die Umkehrung der Ordnung der Dinge, Sonst spendet der Himmel doch der Erde den Regen. Und seht: nun benetzt die Erde den Himmel, ja über die Himmel hinaus bis zu dem Herrn selbst steigt empor der Regen menschlicher Tränen, damit nach den Worten des Psalmisten auch von den Wasserbächen der Tränen gesungen werden könne: "Und die Wasser, die über dem Himmeln sind, sollen loben den Namen des Herrn"5
S. 189"Benetzte mit Tränen seine Füße." O, welche Macht liegt doch in den Tränen der Sünder! Den Himmel benetzen sie, die Erde waschen sie ab, die Hölle löschen sie aus, sie heben auf das von Gott schon über jegliche Missetat verhängte Urteil." "Und trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes." Des Herrn Füße badet sie mit den Tränen und trocknet sie mit den Haaren. Darum hat auch die Armut keine Entschuldigung, wie die Gefühllosigkeit keine Verzeihung er hält, weil die Natur sich ganz genügt für den Dienst des Schöpfers6 . "Und trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes." Auf das Haupt der Sünderin floß zur Reinigung von den Verbrechen der Strom [der Tränen] zurück, damit das Weib abwasche aus eigener Quelle zu neuer Taufe den Schmutz der Sünden. "Und trocknete sie mit den Haaren ihres Hauptes"; denn sie sollte nach dem Psalmisten: "den Scheitel, mit dem sie gewandelt war in ihren Sünden"7 , zur Heiligkeit wandeln durch diesen Dienst. "Und küßte seine Füße." Voraufgegangen waren die Fürsprache einlehenden Tränen, damit folgen könnten Küsse der Liebe; denn die Tränen sind ein Beweis der Buße, wie die Küsse ein Zeichen der Vergebung. "Und salbte sie mit Salböl." Aus der Erzählung des anderen Evangelisten haben wir erkannt, dass ein Weil Öl ausgoß auf das Haupt des Herrn8 . Darum hat auch die Tat dieses Weibes nicht den Charakter eines weichlichen und leiblichen Dienstes, sondern ist ein Geheimnis für die ganze Menschheit. Denn in dem Haupte Christi ist Gott, wie in den Füßen "derer, die den Frieden verkünden"9 .
Betet, Brüder, dass auch wir sowohl als Salböl des Herrn allenthalben befunden werden, auch auch selbst S. 190gesalbt werden durch das Salböl, das fließt aus den Füßen des Erlösers! Denn wie es ein Opfer bedeutet, wenn das Salböl vergossen wird, so ist es auch eine vollkommene Salbung, wenn das Öl wieder zurückfließt von den Füßen des Herrn. Wessen Vorbild aber jenes Weib ist, oder welches Geheimnis es vorbildet, wollen wir, wenn Gott es uns gnädig verleiht, besprechen bei der Erklärung des Folgenden.
Lk 7,36-38 ↩
ich lese mit Januel perrumpit statt prorumpit bei Migne und Pauli ↩
eigentlich: "zu Tische liege" accumberet; in diesem Sinne faßt Chr. das Wort ↩
prostratis conjacet [sc. Deus], cum decumbit ↩
Ps 148,4 f. ↩
verstehe, dass auch die kleinste Tat eines menschlichen Organs Großes leisten kann, um Gott zu kehren und zu bitten. ↩
Ps 67,22 ↩
Mt 26,7 ↩
Röm 10,15 ↩
