1.
Ein Mitbruder aus Gallien erzählte mir, daß er eine unverheiratete Schwester und eine verwitwete Mutter habe, die zwar in derselben Stadt, aber in verschiedenen Häuschen wohnen. Teils um der Einsamkeit zu entgehen, teils um ihr kleines Vermögen zu verwalten, hätten sie als Beschützer irgendeinen Geistlichen in ihr Haus aufgenommen. Hatte nun ihre Trennung bereits Mißbilligung hervorgerufen, so habe dies Zusammenleben mit Fremden noch größeres Ärgernis erzeugt. Als ich bei diesem Berichte aufseufzte und meinen Gedanken mehr durch mein Schweigen als durch Worte Ausdruck verlieh, da sprach er zu mir: „Ich bitte dich, weise beide in einem Briefe zurecht und mahne sie zur Versöhnung, so daß sie sich wieder als Mutter und Tochter fühlen.“ Ich erwiderte: „Du überträgst mir ja ein schönes Amt. Ich, der Fremde, soll wieder zusammenführen, was der Sohn und Bruder nicht vereinigen konnte. Du tust ja, als ob ich einen Bischofsstuhl innehabe und nicht in abgeschlossener Zelle als Mönch lebe, der sich von weltlichen Händeln fernhält, nur darauf bedacht, seine früheren Sünden zu beweinen und sich vor neuen zu hüten. Schließlich geht es nicht gut, seinen Körper einzuschließen und die Zunge in der ganzen Welt umherkreisen zu lassen.“ Er gab mir zur Antwort: „Du bist zu rasch mit Bedenken zur Hand. Wo ist denn die alte Entschlossenheit geblieben, mit der du wie ein zweiter Lucilius mit ätzendem Spotte dich an der Hauptstadt gerieben hast?“ 1 Dazu bemerkte ich: „Das ist es ja gerade, was mich veranlaßt, mich zurückzuhalten und zu schweigen. Denn dadurch, daß ich mich zum Ankläger gegen andere aufwarf, habe ich selbst gefehlt. Alle schworen und leugneten, so daß mir nach einem bekannten Sprichwort Hören und Sehen verging. Selbst die Wände hallten von Beschimpfungen gegen mich wider, und die Weintrinker verfolgten mich mit ihren S. 334 Spottliedern. 2 Da habe ich der Not gehorchend gelernt, über das Böse zu schweigen. Ich halte es für richtiger, ein Schloß vor meinen Mund zu legen und eine feste Tür vor meine Lippen, anstatt mich in lieblosen Worten zu ergehen 3 und mich bei der Rüge anderer der Ehrabschneidung schuldig zu machen.“ Er gab zur Antwort: „Die Wahrheit reden ist noch keine Ehrabschneidung, und eine private Zurechtweisung ist noch keine Bloßstellung vor einem weiteren Kreise; denn es kommt doch nie oder nur ganz selten vor, daß einer sich gerade so verfehlt, wie es hier der Fall ist. Ich bitte dich, laß mich die beschwerliche Reise zu dir nicht umsonst angetreten haben! Der Herr weiß, daß neben der Besichtigung der heiligen Stätten meine größte Sorge war, durch einen Brief von dir Schwester und Mutter wieder zu finden.“ Schließlich bemerkte ich: „Gut, ich will deinen Wunsch erfüllen. Der Brief wandert ja über das Meer, und was für einen besonderen Fall diktiert wird, dürfte kaum einen anderen verletzen. Ich bitte dich aber, meine Darlegungen vertraulich zu behandeln. Wenn der Brief, den du sozusagen als Zehrgeld mitnimmst, Erfolg hat, dann wollen wir uns beide darüber freuen. Bleibt er aber unbeachtet, was ich leider befürchten muß, dann habe ich in den Wind gesprochen, und du hast deine weite Reise umsonst unternommen.“
