[Vorwort]
Ein Blick in das chronologische Verzeichnis der Briefe unseres Heiligen führt zu der auffallenden Feststellung, daß die Zeit von 386—392 keinen einzigen Brief aufweist. 1 Es wäre ein eigenartiger Zufall, wenn es sich nur um eine Lücke in der Überlieferung der Briefe handeln sollte. Wahrscheinlicher ist, daß mit der Übersiedlung nach Bethlehem vorläufig keine Korrespondenz mit dem Abendlande, besonders mit dem ungastlichen Rom, aufgenommen wurde, das Hieronymus unter so tragischen Umständen verlassen hatte. Freilich ein Brief ist in dieser Zeit doch von Bethlehem nach Rom abgegangen. Als Absender zeichnen Paula und Eustochium, die sich an Marcella, ihre Lehrerin und geistliche Mutter, wenden. Ein flüchtiger Blick zeigt, daß nach Stil und Aufbau nur Hieronymus als Verfasser in Frage kommen kann. Diese Beobachtung bestätigt auch der älteste Kodex von „De viris illustribus“, der in einer erweiterten Form auch diesen Brief unter die Werke unseres Kirchenvaters einreiht. 2
Paula und Eustochium, das ist der Inhalt des Schreibens, laden ihre römische Freundin ein, sich bei ihnen im Heiligen Lande niederzulassen, da ihnen die Trennung von ihrer lieben Marcella untragbar scheint. Es S. 293 ist ein poetisch bezauberndes Bild, das sie der Freundin vor Augen führen, mit dem sie hoffen, Eindruck auf ihr religiös empfängliches Gemüt zu machen. Alles atmet Frieden und Eintracht im Gegensatz zu Rom mit seinen Intrigen. Die ganze Technik der Allegorese wird aufgeboten, um darzutun, daß der Fluch des Herrn über Jerusalem, das weit über dem römischen Babylon steht, für den Christen keine praktische Bedeutung hat.
Unerklärlich bleibt freilich in Anbetracht der literarischen Fiktion, daß Hieronymus überhaupt nicht erwähnt wird, ja nicht einmal einen Gruß an seine treueste und gelehrigste Schülerin beifügt. Es sollte eben formell der Eindruck vermieden werden, daß er irgendwie hinter der Einladung steckt. Hatte er doch früher in Rom versucht, Marcella für ein Leben religiöser Abgeschiedenheit auf dem Lande zu gewinnen, freilich ohne Gehör zu finden. 3 Er konnte also nicht gut in ähnlicher Sache zum zweiten Male die Feder führen. Aber wie bereits früher erwähnt, dürfte diesem Briefe die Epistula 44 beigefügt gewesen sein, die sich besser nach Bethlehem als nach Rom verlegen laßt. 4
Marcella folgte der frommen Lockung auch dieses Mal nicht. Sie hatte sich ihre Selbständigkeit immer gewahrt und war gewohnt, nach eigener Entschließung zu handeln. Aber die alten Beziehungen zwischen dem Palast auf dem Aventin und den leitenden Personen der Klöster in Bethlehem gingen ununterbrochen weiter, wenn uns auch nur ein Brief an Marcella außer dem vorliegenden aus der Zeit des bethlehemitischen Aufenthalts überkommen ist. 5 Aber Hieronymus bezeugt selbst den lebhaften brieflichen Verkehr mit solchem Nachdruck, daß ein Zweifel daran ausgeschlossen sein muß. 6
Eine unbedingt genaue zeitliche Festlegung des Briefes ist mangels eines gesicherten zeitlichen Stützpunktes nicht möglich. Wichtige Umstände sprechen für den Frühaufenthalt in Bethlehem. Damals war die Sehnsucht nach der Freundin am stärksten, als die lindernde Zeit S. 294 ihren mäßigenden Einfluß noch nicht geltend gemacht hatte. Auch liegen aus späterer Zeit Schilderungen über die Zustände im Heiligen Lande vor, die stark mit dem idealen Bilde unseres Briefes kontrastieren. 7 Der freudige Empfang durch die Chöre der Mönche und Jungfrauen, den die Schreiberinnen Marcella ankündigen, verpflichtet keineswegs die Abfassung nach 389 zu verlegen, 8 da ja nicht unbedingt an Mönche und Nonnen der eigenen Klöster zu denken ist. 9 Selbst die Erwägung, daß die Einladung an Marcella erst nach dem Tode ihrer Mutter Albina ergehen konnte, der in Bethlehem zwischen der Abfassung der Kommentare zu den Briefen an Philemon und die Galater bekannt 10 wurde, schlägt nicht durch bei einer Einstellung, die im Interesse des Seelenheiles auch die verwandtschaftlichen Bindungen außer acht zu lassen gebietet, wie Hieronymus ja so oft dartut. 11 Das Ergebnis der angestellten Erwägungen dürfte für die Abfassung des Briefes nur die Wahl zwischen den Jahren 386 und 387 lassen. 12
Vielleicht machte ep. 44 ad Marcellam eine Ausnahme (s. S. 49). ↩
Vgl. Feder, Zusätze zum Schriftstellerkatalog des hl. Hieronymus (Biblica I. Rom. 1920, 501 f.); Cav. II 136. ↩
Ep. 43 ad Marcellam (s. S. 45 ff.). ↩
Ep. 44 ad Marcellam (s. S. 49 ff.). ↩
Ep. 59 ad Marcellam; vgl. jedoch S. 292 Anm. 3. ↩
Ep. 127, 8 ad Principiam (BKV XV 188 f.). ↩
Ep. 58, 3 ad Paulinum; ep. 82 ad Theophilum. ↩
Gr. I 64 f. In diesem Jahre wurde das von Paula eingerichtete Nonnenkloster fertig. ↩
Vgl. ep. 46, 10. ↩
Cav. II 43. Hier und II 27 verlegt Cavallera die Entstehung der beiden Kommentare in die Jahre 388/9. Die Schwierigkeit schwindet, wenn man sie mit Grützmacher (I 61 f.) für die Jahre 386/7 ansetzt. ↩
Vgl. z.B. ep. 14, 2 ad Heliodorum (s. S. 280). ↩
Vgl. auch Pr. 39 f. Cavallera irrt sich, wenn er Feder den Brief im Jahre 406 entstehen läßt (I 165). Es liegt eine Verwechslung vor zwischen der „Bamberger liste“ und dem Briefe (s. Biblica I. Rom 1920, 510. Vgl. auch 508, wo er ausdrücklich „kurz nach 386“ angesetzt wird). ↩
