Einleitung
Bei seinem weitgehenden geistigen Interesse knüpfte Paulinus von Nola 1 Beziehungen zu den großen christlichen Gelehrten seiner Zeit an. Auch mit Hieronymus wollte er bekannt werden. Deshalb übersandte er ihm durch einen gewissen Ambrosius einen Brief, der in Bethlehem wohl aufgenommen wurde. Offensichtlich bereitete es Hieronymus Genuß, von einem so vornehmen und literarisch gewandten Manne um Rat angegangen zu werden. Hieronymus, der sofort aus dem Briefe die geistige Bedeutung Paulins erkannt hatte, 2 bemühte sich, dessen Fähigkeiten auf die biblische Exegese hinzulenken. Er betont, daß Heiligkeit und Wissenschaft vereinigt sein müssen. Zur wahren Weisheit, zu Christus, führen aber nur die heiligen Schriften. In einer kurzen Übersicht über die ganze Schrift zeichnet Hieronymus, reichlich durchsetzt mit allegorischen, selbst kabbalistischen Darlegungen, einen Schattenriß der göttlichen Heilsökonomie und ihrer Geheimnisse. Um aber nicht auf falscher Fährte in die Irre zu gehen, bedarf es beim Studium der Schrift eines Führers. Als solchen bietet sich Hieronymus an und lädt seinen neuen Freund zur Übersiedlung nach Bethlehem 3 und zum gemeinschaftlichen Studium ein. Mit einem aszetischen Ausklang schließt der Brief. Um des Hieronymus Ratschläge auszuführen, möge Paulin mit dem monastischen Ideal völlig Ernst machen und auf den Rest seines Besitzes im Interesse der Armen verzichten. Doch Paulinus blieb S. b242 in Nola bis zu seinem Tode (431), nachdem er 409 auf den bischöflichen Stuhl dieser Stadt erhoben worden war. Auch Exeget wurde er nicht, obwohl Hieronymus seine Versuche nach dieser Richtung hin später erneuerte. 4 Wenn Paulinus sich auch ab und zu für biblische Fragen interessierte, 5 so lag ihm das Schöngeistige doch mehr als nüchterne Wissenschaftlichkeit.
Der Brief stammt aus der ersten Zeit nach der Priesterweihe des Paulinus (Weihnachten 394), 6 also wohl aus dem Jahre 395. Wenn Cavallera 7 entgegen der Überlieferung glaubt, diesen Brief nach der ep. 58 ad Paulinum ansetzen zu müssen, so reichen die vorgebrachten Argumente nicht aus.
Vgl. BKV II. Reihe XVI 169 f. ↩
Ep. 53, 11. Vgl. auch ep. 58, 8. 11; 85, 1 ad Paulinum. ↩
Wenn Grützmacher (II 227 ff.) und Cavallera (I 171 f. 196) einige Stellen aus ep. 58 so auffassen, als ob Paulins Besuch Hieronymus unwillkommen gewesen wäre, so ist diese Deutung nicht zwingend. Daß Paulin Hieronymus persönlich in Bethlehem kennenlernen will, ist eine nur durch diese Stellen gestützte Vermutung. Im übrigen wäre es verständlich, daß der Besuch zur Zeit ungelegen kommt, wegen des immer unerquicklicher werdenden Verhältnisses zu Johannes von Jerusalem und Rufin. ↩
Ep. 58, 11 ad Paulinum. ↩
Ep. 85 ad Paulinum. ↩
Nach Hilberg lautet die Anrede „Ad Paulinum presbyterum“, nicht wie bisher angenommen „Ad Paulinum“. ↩
Cavallera, Hieronymiana 2e série, in Bulletin de Littérature Ecclésiastique, Paris und Toulouse 1921 [VI 12] 148 ff.; Cav. II 89 f. ↩
