9.
Wie Du siehst, ließ mich die Begeisterung für die Heilige Schrift über die Grenzen eines Briefes hinausgehen, ohne daß ich die mir gestellte Aufgabe voll und ganz hätte durchführen können. Wir haben nur gehört, welches der Gegenstand unseres Studiums und unserer Sehnsucht sein soll, so daß auch wir sprechen können: „Ständig hat meine Seele danach verlangt, Dein Gesetz kennenzulernen.“ 1 Auf uns trifft der Sokratische Ausspruch zu: „Nur das eine weiß ich, daß ich nichts weiß.“ 2 Ich muß aber noch kurz das Neue Testament streifen. Matthäus, Markus, Lukas und Johannes, dieses erhabene Viergespann des Herrn, sind die wahren Cherubim, d.h. „des Wissens Fülle“. 3 Ihr ganzer Körper ist voller Augen, sie sind strahlende Funken, sie fahren hin und her wie der Blitz. Ihre Füße sind gerade und schreiten der Höhe zu, ihr Rücken ist geflügelt, und nach allen Richtungen schweben sie. 4 Sie halten sich gegenseitig und sind ineinander verschlungen. Wie ein Rad im Rade schwingen sie und bewegen sich überall hin, wo der Hauch des Heiligen Geistes sie hinträgt. Der heilige Paulus schreibt an sieben Kirchen; denn der achte Brief an die Hebräer wird von den meisten als unecht abgelehnt. 5 Er unterweist Timotheus und Titus. Bei Philemon legt er Fürbitte ein für den flüchtigen Sklaven. Ich halte es für richtiger, über diesen S. b260 Apostel zu schweigen, als ihn mit wenigen Worten abzutun. Die Apostelgeschichte erscheint uns als einfacher geschichtlicher Bericht, welcher die ersten Zeiten der werdenden Kirche schildert. Wenn wir aber daran denken, daß ihr Verfasser Lukas, dessen Evangelium alles Lob verdient, 6 ein Arzt war, dann ist es selbstverständlich, daß alle seine Worte eine Medizin für die kranke Seele sind. Die Apostel Jakobus, Petrus, Johannes und Judas haben an die Kirchen sieben knapp gehaltene, aber geheimnisvolle Briefe gerichtet, die gleichzeitig kurz und lang sind; kurz im Ausdruck, inhaltsreich in ihren Gedanken. Selten mag sich jemand finden, dem ihre Lesung nicht allerhand Rätsel aufgäbe. Die Apokalypse des hl. Johannes zählt so viele Geheimnisse wie Worte. Damit bin ich in meinem Urteil dem Buche nicht gerecht geworden, und jedes Lob muß hinter der Wirklichkeit zurückbleiben. In jedem einzelnen Worte verbirgt sich ein vielfacher Sinn.
Ps. 118, 20. ↩
Vgl. S. 252 Anm. 2. ↩
Diese dem Hebräischen nicht gerecht werdende Etymologie geht zurück auf Philo, Klemens von Alexandrien und Origenes (vgl. Vigouroux, Dictionnaire de la Bible II 1, 672 f.). ↩
Ezech. 10. ↩
Zur Einstellung des Hieronymus zum Hebräerbrief vgl. Schade, Die Inspirationslehre des hl. Hieronymus, Freiburg 1910, 214 ff. ↩
2 Kor. 8, 18. ↩
