1.
Der Bruder Ambrosius hat mir Deine Geschenke samt einem recht herzlichen Briefe überbracht, welcher, obwohl wir erst am Anfange unserer Bekanntschaft stehen, den Eindruck erprobter Treue und alter Freundschaft hinterläßt. Denn wahrhaft echt und mit Christi Band geknüpft ist nur jene Freundschaft, welche nicht zeitlicher Vorteil, persönlicher Umgang, unwürdige und kriechende Schmeichelei, sondern die Furcht Gottes und das Studium der Hl. Schrift begründet. In alten Geschichtsbüchern lesen wir von Menschen, die ganze Provinzen bereisten, unbekannte Völker aufsuchten, Meere durchschifften, um die Menschen, welche ihnen nur aus Büchern bekannt waren, auch aus eigener Anschauung kennenzulernen. So besuchte Pythagoras voller Wißbegierde die Seher zu Memphis; 1 Platon reiste S. b243 trotz vieler Beschwerlichkeiten nach Ägypten und dem Architas aus Tarent 2 zuliebe auch in den Teil von Italiens Küste, den man einst Großgriechenland nannte. Der berühmte Lehrer aus Athen, der seine Weisheit auf den Sportplätzen der Akademie 3 vortrug, wurde ein Fremdling und Schüler, da er lieber bescheiden von anderen lernen als seine Lehre unbescheiden anderen aufdrängen wollte. Während er die gleichsam vor ihm fliehende Wissenschaft über den ganzen Erdball verfolgt, wird er von Seeräubern gefangen und nach Sizilien an den grausamsten aller Tyrannen 4 verkauft, dem er dienstbar wird. Obwohl gefangen, gefesselt und Sklavenarbeit verrichtend, überragt er, weil er Philosoph war, den, welcher ihn kaufte. 5 Zu Titus Livius, von dessen Beredsamkeit man das Wort geprägt hat, daß sie einem Milchquell gleich dahinfließt, 6 kam, wie berichtet wird, ein Mann aus Gades vom äußersten Ende der Welt. 7 Nicht Roms Reize, sondern der Ruhm eines Mannes hatte ihn zum Besuche der Hauptstadt angeregt. Jenes Zeitalter besaß ein den anderen Jahrhunderten versagtes und hochberühmtes Weltwunder, so daß dieser Spanier, der sozusagen die ganze Welt betrat, einen, der über der Welt stand, aufsuchte. Apollonius, 8 von dem Volke für einen Zauberer, von den Pythagoreern für einen Philosophen gehalten, besuchte die Perser, S. b244 durchquerte den Kaukasus und drang zu den Albanern, 9 Skythen, Massageten 10 und selbst bis zu den durch ihren fabelhaften Reichtum berühmten indischen Reichen vor. Zuletzt gelangte er über den breiten Fluß Phison 11 zu den Brahmanen, um den Hiarkus 12 zu hören, wie er, auf einem goldenen Throne sitzend und aus dem Quell des Tantalus trinkend, inmitten einer kleinen Anzahl von Schülern über die Natur, die Ethik und den Lauf der Gestirne lehrte. Von da trug ihn seine Reise weiter zu den Elamitern, Babyloniern, Chaldäern, Medern, Assyrern, Parthern, Syrern, Phöniziern, Arabern und zurück nach Palästina. Von hier aus ging es weiter nach Alexandria. Dann besuchte er Äthiopien, wo er die Gymnosophisten 13 und den berühmten Tisch der Sonne im Sande sehen wollte. 14 Dieser Mann wußte überall etwas zu lernen und war nur darauf bedacht, ständig im Wissen und in der Tugend Fortschritte zu machen. Darüber berichtet ganz ausführlich Philostratus in acht Büchern. 15
Zu den Reisenden der Philosophen Pythagoras und Platon vgl. Cicero, De finibus V 19, 50; 29, 87; Tuscul. I 17 39; IV 19 44; De re publ. I 10, 16. ↩
Vgl. BKV II. Reihe XVI 328 Anm. 6. ↩
Cicero, De fin. I 1, 3. Die von Platon in einem dem Heros Akademos geweihten Hain gegründete Philosophenschule. ↩
Dionysius der Jüngere von Syrakus. ↩
Cicero, Pro Rabirio post. 9, 23. ↩
Quintilian, Inst. orat. X 1, 32. ↩
Plinius, Ep. II 3, 8. ↩
Apollonius von Tyana (um 50 n. Chr.), ein Pythagoreer von streng aszetischer Lebensauffassung, galt als Wundertäter. Philostratos hat in 8 Büchern, mehr Roman als Geschichte, sein Leben beschrieben. Der Roman erhielt dadurch besondere Bedeutung, daß der Statthalter von Bithynien, Hierokles, die Person des Apollonius als gleichwertig zu Christus in Parallele setzte. Gegen Hierokles wandte sich Eusebius von Cäsarea (vgl. B. III 247 f.). ↩
Völkerstamm zwischen Georgien und dem Kaspischen Meer (heute Daghestan). ↩
Skythischer Volksstamm nördlich vom Aralsee. ↩
Ganges. ↩
Ein Brahmane. In seiner Schule stand eine Statue des Tantalus, in der Hand einen unerschöpflichen Wasserbecher haltend. Aus diesem, dem Symbol des Quells der Weisheit, pflegten die Philosophen des Abends vor dem Schlafen zu trinken. (Philostratus, Vita Apollonii III 16. 25.). ↩
Vgl. BKV II. Reihe XVI 396 Anm. 4. ↩
Herod. III 17 f. ↩
Philostratus, Τά ἐς τὸν τυανέα Ἀπολλώνιον (Kayser). Leipzig 1870. ↩
