8.
Leichtverständlich ist die Genesis, welche von der Entstehung der Welt, der Erschaffung des Menschengeschlechtes, der Aufteilung der Erde, der Sprachverwirrung und der Einwanderung der Hebräer in Ägypten handelt. Auch das Buch Exodus mit seinem Bericht über die zehn Plagen, mit dem Dekalog und seinen geheimnisvollen 1 göttlichen Gesetzen macht keine Schwierigkeiten. Faßlich ist der Inhalt des Buches Levitikus, in dem die einzelnen Opfer, ja die einzelnen Silben, die Kleider Aarons und der gesamte Dienst der Priester göttliche Geheimnisse atmen. Das Buch Numeri macht uns bekannt mit den Geheimnissen der Zählung des ganzen Volkes, der Weissagung Balaams und den 42 Lagerstätten, an denen das Volk während des Wüstenzuges Rast machte, 2 Erweckt nicht das Deuteronomium, das zweite Gesetz und zugleich ein Vorbild des Evangeliums, den Eindruck, das früher Gesagte zu wiederholen und doch ein neues Buch zu sein? So weit geht Moses, so weit geht der Pentateuch, der die fünf Worte andeutet, welche der Apostel in der Kirche reden zu wollen sich rühmt. 3 Welch große Geheimnisse enthalten nicht die Reden des vorbildlichen Dulders Job! Mit Prosa fängt das Buch an, bald geht es in dichterische Form über, um gegen Ende S. b253 wieder in die alltägliche Redeweise auszumünden. 4 Dabei befolgt der Verfasser alle Regeln der Dialektik. Er setzt das Thema fest, läßt die Beweisführung folgen, bekräftigt sie durch das Zeugnis maßgebender Personen und endet mit der sich ergebenden Schlußfolgerung. In diesem Buche sind die einzelnen Worte voll tiefen Sinnes. Ich will nur eines anführen. Die Auferstehung des Fleisches sagt es so klar voraus, daß kein anderer deutlicher und bestimmter über sie geschrieben hat, als Job es tat mit den Worten: „Ich weiß, daß mein Erlöser lebt. Am Jüngsten Tage werde ich von der Erde auferstehen. Mit meiner Haut werde ich wieder umgeben werden und in meinem Fleische Gott schauen. Ich selbst werde ihn sehen, nicht etwa ein anderer, und meine Augen werden ihn schauen. Diese Hoffnung ruht wohlgeborgen in meinem Herzen.“ 5 Weiter komme ich zu Josue, dem Sohne des Nave, der nicht nur in seinen Taten, sondern schon durch seinen Namen ein Vorbild des Erlösers ist. Josue zog über den Jordan, zerstörte die feindlichen Reiche und verteilte das Land unter das siegreiche Volk. Er beschreibt die einzelnen Städte, Flecken, Berge, Flüsse, Ströme und Grenzen und gibt uns auf diese Weise eine typische Schilderung der Kirche und des himmlischen Jerusalem. Im Buche der Richter haben alle Fürsten des Volkes vorbildlichen Charakter. An der Moabitin Ruth erfüllt sich die Weissagung des Propheten Isaias über Moab: „Entsende das Lamm, o Herr, den Beherrscher der Erde, und führe es aus der steinigen Wüste zum Berge Sions, Deiner Tochter.“ 6 Das Buch Samuel erzählt Helis Tod und Sauls Untergang. Es wird damit zum Hinweis auf die Abschaffung des alttestamentlichen Gesetzes. Weiterhin stellt es Sadok und David hin als die Vorbilder eines neuen Priestertums und eines neuen Königtums. S. b254 Malachim, d. i das dritte und vierte Buch der Könige, reicht von Salomon bis Jechonias. Es berichtet von Jeroboam, dem Sohne Nabaths, angefangen bis auf Osee, der in die assyrische Gefangenschaft geschleppt wurde, und schildert somit das Schicksal der Königreiche Juda und Israel. Der geschichtliche Bericht an sich ist leicht zu verstehen. Wenn Du aber nach dem im Buchstaben verborgenen Sinne forschst, dann weisen diese Bücher hin auf die Kirche in ihrer äußeren Unscheinbarkeit und auf die Kämpfe der Irrlehrer gegen diese Kirche. Die zwölf Propheten, die eines Buches Enge vereinigt, haben einen in die Zukunft weisenden Inhalt, der von der buchstäblichen Auffassung weit abweicht. Der Prophet Osee nennt oft Ephraim, Samaria, Joseph, Jezrael, ein ehebrecherisches Weib, im Ehebruch erzeugte Kinder, eine in der Kammer ihres Mannes eingeschlossene Ehebrecherin, die dasitzt einer Witwe gleich und lange Zeit, angetan mit einem Trauergewande, die Rückkehr ihres Gatten erwartet. 7 Joel, der Sohn des Phatuel, schildert, wie das Gebiet der zwölf Stämme von Schnecken, Raupen, Heuschrecken und vom Getreidebrand heimgesucht und zerstört wird. Er verkündet voraus, wie nach der Vernichtung des alten Volkes der Heilige Geist ausgegossen wird über die Diener und Dienerinnen Gottes, 8 d.h. über die 120 Seelen der Gläubigen, die im Abendmahlssaale zu Jerusalem versammelt waren. 9 Diese 120 haben etwas Geheimnisvolles an sich, indem sie mit einer Stufe beginnend und allmählich durch Zuwachs bis auf fünfzehn Stufen steigend, die Zahl der fünfzehn Stufen andeuten, die im Psalterium geheimnisvoll enthalten sind. 10 S. b255 Amos, der Hirte und Landmann, der Beeren von den Sträuchern pflückt, ist mit wenigen Worten nicht zu erklären. 11 Wer vermöchte einwandfrei zu deuten, was mit den drei oder vier Verbrechen der Städte Damaskus, Gaza und Tyrus, Idumäas, der Ammoniter und Moabiter gemeint ist oder gar mit der siebenten und achten Stufe Judas und Israels? 12 Er spricht zu fetten Kühen, die auf dem Berge Samarias weiden, und bezeugt den Verfall des größeren und des kleineren Hauses. 13 Er sieht den Schöpfer der Heuschrecke, den Herrn, der auf einer beworfenen oder stählernen Mauer steht, und den Apfelhaken, 14 der die Strafe über die Sünder und den Hunger ins Land zieht, nicht etwa den Hunger nach Brot und den Durst nach Wasser, sondern nach dem Worte Gottes. Abdias, d.h. der Gottesknecht, 15 schreit laut auf gegen Edom, den Mann des Blutes und der irdischen Gesinnung. 16 Ihn, der gegen seinen Bruder Jakob ständige Eifersucht hegt, durchbohrt er mit geistiger Lanze. Jonas, „die schönste Taube“, 17 versinnbildet in seinem Schiffbruch das Leiden des Herrn; 18 er ruft die Menschen zur Buße auf und kündet im Schicksal Ninives auch den Heiden die Erlösung. Michäas von Morasthi, „der Miterbe Christi“, 19 sagt der Tochter des Räubers die Zerstörung infolge feindlicher Belagerung an, weil sie den Richter Israels ins Angesicht geschlagen hat. 20 Nahum, „der Tröster der Welt“, 21 schilt die Stadt des Blutes, weissagt ihr den Untergang und spricht: „Siehe über den Bergen die Füße dessen, der das Evangelium verkündet und den Frieden predigt!“ 22 Habakuk, der S. b256 starke und unbeugsame „Kämpfer“, 23 steht auf seinem Posten und setzt seinen Fuß auf den Wall, um Christus am Kreuze zu sehen, und spricht: "Seine Herrlichkeit bedeckt die Himmel, und seines Ruhmes voll ist die Erde. Sein Glanz wird wie ein Licht sein. Kraft ist in seinen Händen; in ihnen liegt verborgen seine Macht.“ 24 Sophonias, der in die Zukunft Schauende, der Kenner der göttlichen Geheimnisse, vernimmt ein Geschrei vom Fischtor her und ein Geheul vom zweiten Tor und Schlachtenlärm von den Hügeln. Den Bewohnern des Mörserviertels 25 kündet er Wehklagen an, denn Kanaans ganzes Volk ist zum Schweigen gebracht. Alle sind umgekommen, die einst im Silberschmuck einhergingen. 26 Aggäus, „der Festliche und Freudige“, 27 der in Tränen säte, um in Freuden ernten zu können, 28 baut den zerstörten Tempel wieder auf. Er führt Gott Vater redend ein mit den Worten: „Noch eine kleine Weile, und ich will den Himmel und die Erde, das Meer und das Festland erschüttern und alle Völker in Bewegung bringen; denn der wird kommen, nach dem sich alle Völker sehnen.“ 29 Zacharias, „eingedenk seines Herrn“, 30 ist vielseitig in seinen Prophezeiungen. Er sieht Jesus, 31 angetan mit schmutzigen Kleidern, und einen Stein mit sieben Augen, einen goldenen Leuchter mit ebenso vielen Lampen wie Augen, ferner je zwei Oliven zur Rechten und zur Linken der Lampe. Er schaut fuchsige, scheckige, weiße und schwarze Pferde, die vernichteten S. b257 Viergespanne aus Ephraim und das Pferd aus Jerusalem. 32 Dann aber verkündet er den armen König und schaut ihn, wie er auf dem Füllen, dem Jungen eines Lasttieres, sitzt. Malachias äußert sich als letzter aller Propheten ganz offen über die Verwerfung des Volkes Israel und über die Berufung der Heiden: „Ich habe kein Wohlgefallen an euch, spricht der Herr der Heerscharen, und nehme von eurer Hand kein Opfer mehr an. Denn vom Aufgang der Sonne bis zum Untergange wird mein Name groß sein unter den Heiden. Überall wird man opfern und meinem Namen eine reine Opfergabe darbringen.“ 33 Wer wäre in der Lage, Isaias, Jeremias, Ezechiel und Daniel zu verstehen oder gar zu erklären? Vom ersten unter ihnen möchte man behaupten, daß er kein prophetisches Buch, sondern schon mehr ein Evangelium geschrieben hat. Der zweite schaut einen Nußzweig, einen kochenden Topf in der Richtung des Nordwindes, einen seiner Farben beraubten Panther. 34 In vierfacher Abwandlung des Alphabetes dichtet er dem Maß nach verschieden seine Verse. 35 Anfang und Ende sind beim dritten von ihnen in solches Dunkel gehüllt, daß diese Stücke ähnlich wie auch der Anfang der Genesis von den Hebräern vor dem dreißigsten Jahre nicht gelesen werden. Der vierte aber, der letzte unter den großen Propheten, erweist sich als Kenner der Zeit und der gesamten Weltgeschichte. Er weissagt in klaren Worten den ohne Menschenhand vom Berge losgelösten Stein, der allen Reichen ein Ende macht. 36 David, unser Simonides, 37 Pindar 38 und Alkäus, 39 S. b258 unser Flaccus, 40 Catull 41 und Serenus, 42 besingt Christus mit der Leier, und auf der zehnsaitigen Harfe 43 weckt er den Auferstehenden von den Toten auf. Salomon, der Friedfertige, der Liebling Gottes, 44 gibt uns Anweisung zum guten Leben. Er vermählt Christus mit der Kirche und singt das süße Lied der heiligen Hochzeit. 45 Als Vorbild der Kirche befreit Esther das Volk von der drohenden Gefahr, und nach der Hinrichtung Amans, dessen Name Schlechtigkeit bedeutet, vererbt sie die Teilnahme am Freudenmahle in einem feierlichen Gedenktag auf die Nachkommen fort. 46 Das Buch Paralipomenon, ein Abriß der alttestamentlichen Geschichte, ist von solcher Wichtigkeit und Bedeutung, daß sich Jeder zum Gespötte macht, der sich einbilden sollte, ohne Kenntnis dieses Buches mit der Schrift vertraut zu sein. Denn selbst die einzelnen Namen und Wortverbindungen dienen dazu, die in den Büchern der Könige übergangenen geschichtlichen Vorgänge aufzuhellen, und viele Probleme des Evangeliums finden hier ihre Klärung. Esdras und Nehemias, „der Helfer“ und „der Tröster vom Herrn“, 47 sind in einem Band zusammengefaßt. Sie stellen den Tempel von neuem her und bauen die Stadtmauern wieder auf. Die Aufzählung der in die Heimat zurückkehrenden Volksschar, das Verzeichnis der Priester und Leviten, der Israeliten sowie der Proselyten, die Festlegung des Anteils, den S. b259 die einzelnen Familien an dem Aufbau der Mauern und der Türme auferlegt bekommen, geben einen Doppelsinn, je nachdem man sich mit der Rinde des Buchstabens begnügt oder zum Marke typischer Deutung vordringt.
Geheimnisvoll wegen ihrer vorbildlichen Bedeutung. ↩
Die 42 Lagerstatten werden ep. 78 ad Fabiolam allegorisch gedeutet. ↩
1 Kor. 14, 19. ↩
Vgl. Vorwort zur Übersetzung des Buches Job (M PL XXVIII 1140 f.). ↩
Job 19, 25 ff. ↩
Is. 16, 1 ↩
Sehr frei nach Osee 1, 2; 2, 7. ↩
Joel 2, 25. 28 f. ↩
Apg. 1, 15; 2, 16 ff. ↩
Kabbalistische Spielerei. Die arithmetische Progression von 1—15 mit der Grundzahl 1 ergibt 120. Ps. 119—133 heißen Stufenpsalmen (vgl. BKV II. Reihe XVI 20 Anm. 3). ↩
Amos 7, 14. ↩
Ebd. 1, 3. 6. 9. 11. 13; 2, 1. 4. 6. ↩
Ebd. 4, 1; 6, 12. ↩
Ebd. 7, 1. 7; 8, 1 f. ↩
עֹבָדיָה/ יְהוָֹה עבד „Knecht Gottes“. ↩
Abd. 1, 1. ↩
יוֹנָה „Taube“. ↩
Matth. 12, 39 f.; Luk, 11, 29 f. ↩
Der Geburtsort des Propheten Michäas מוֹרֶשֶׁת wird von יָרַשׁ (Hiph. „in Besitz nehmen“) hergeleitet. ↩
Mich. 5, 1. ↩
נָחַמ „trösten“. ↩
Nah. 1, 15. ↩
חָבַק „mit den Armen umschließen“. Hieronymus denkt wohl an einen Ringkampf. Im Vorwort zur Erklärung des Propheten Habakuk übersetzt er den Namen mit „amplexus“ (M PL XXV 1334 f.). ↩
Hab. 2, 1; 3, 3 f. ↩
מַכְתֵּשׁ (pila, Mörser) ist der Name eines Stadtteiles von Jerusalem. ↩
Soph. 1, 10 f. ↩
חַגַּי von חָגַג „feiern“. ↩
Ps. 125, 5. ↩
Agg. 2, 7 f. ↩
טָכַר יְהוָֹה „des Herrn gedenken“. ↩
Der Hohepriester Josua, der Sohn Josedechs. ↩
Zach. 3, 3. 9; 4, 2 f.; 6, 2 f.; 9, 10. 9. ↩
Mal. 1, 10 f. ↩
Jer. 1, 11. 13; 13, 23 (nach LXX). ↩
Die einzelnen Verse der Klagelieder beginnen alphabetisch. Das Alphabet wiederholt sich viermal. Die Frage nach einem hebräischen Versmaß ist zum mindesten stark umstritten. ↩
Dan. 2, 34. 45. ↩
Griechischer Lyriker aus Syrakus (559—469 v. Chr.). ↩
Griechischer Lyriker aus Theben (522-—442 v. Chr.). ↩
Griechischer Lyriker aus Mytilene, Zeitgenosse der Sappho (7. Jahrhundert v. Chr.). ↩
Horaz. ↩
Römischer Lyriker aus Verona (77—47 v. Chr.). ↩
Serenus Sammonicus, der Jüngere, römischer Dichter des 3. Jahrhunderts n. Chr. ↩
כּנּוֹר Jos., Ant. VII 12, 3 sagt von David: δὲκα χορδαῖς ἐξημμένη τύπτεται πλήκτῳ ↩
2 Kön. 12, 25. ↩
Hieronymus deutet das Hohelied messianisch auf Christus und seine Braut, die Kirche. ↩
Esth. 7, 10; 9, 19. ↩
עֶזְרָא von עָזַר „helfen“, נְחֶמְיָת von נָחַם „trösten“ abgeleitet. Beide Namen sind zusammengesetzt mit dem verkürzten Gottesnamen יהוָֹה. ↩
