Zwölfter Artikel. Die heilige Liebe wird verloren durch eine einzige Todsünde.
a) Dies wird bestritten. Denn: I. Origenes sagt (1 Periarch.): „Wenn aber jemanden Überdruß übermannt, der da in der Vollendung der Liebe sich findet, so glaube ich nicht, daß er plötzlich, auf einmal, von derselben entleert werde; sondern nach und nach.“ Also nicht auf einmal verliert jemand die Liebe. II. Leo der Große sagt (serm. de Pass.): „Gott sah in dir (Petrus) nicht den Glauben überwunden, nicht die Liebe verdorben, sondern die Standhaftigkeit in etwa verwirrt. Viel ward geweint, wo die Liebe nicht gemangelt hat; und der Quell der Liebe wusch ab die Worte der Furcht.“ Ebenso sagt Bernardus (2. de amore Dei 6.), in Petrus sei die Liebe nicht verlöscht gewesen, sondern sie habe geschlafen. Petrus aber beging durch seine Verleugnung des Herrn eine Todsünde. Also nimmt die Todsünde nicht auf einmal die Liebe fort. III. Die Liebe ist stärker wie die erworbene Tugend, die nicht durch einen einzigen entgegengesetzten Akt hinweggenommen wird. IV. Die heilige Liebe schließt die Liebe Gottes und des Nächsten ein. Diese aber bleibt bestehen, wenn man eine Todsünde begeht. Denn man kann Gott lieben und den Nächsten, wenn auch die Neigung mit Rücksicht auf ein zeitliches Gut ungeregelt ist. V. Der Glaube und die Hoffnung schwinden nicht auf Grund eines einzigen Aktes der Todsünde. Also ist dies auch nicht bei der Liebe der Fall, die gleichfalls auf den letzten Endzweck unmittelbar sich richtet. Auf der anderen Seite wird durch die Todsünde jemand wert des ewigen Todes, nach Röm. 6.: „Der Lohn der Sünde ist der Tod.“ Jeder aber, der Liebe hat, verdient das ewige Leben, nach Joh. 14.: „Wer mich liebt, wird geliebt werden vom Vater; und ich will Ihn lieben und mich selbst Ihm offenbaren.“ Darin nun besteht das ewige Leben: „Das ist das ewige Leben, daß sie Dich erkennen, den alleinigen wahren Gott, und den Du gesandt hast, Jesum Christum.“ Keiner aber kann zugleich das ewige Leben und den ewigen Tod verdienen. Also besteht die heilige Liebe mit keiner Todsünde zusammen.
b) Ich antworte, jede Todsünde stehe im eigentlichen Gegensatze zum Wesenscharakter der heiligen Liebe. Denn diese liebt ihrem Wesen nach Gott über Alles, unterwirft Ihm Alles und bezieht auf Ihn Alles; sie will also in Allem der Richtschnur des Willens Gottes und seiner Gebote folgen. Was demnach offenbar gegen die Gebote Gottes gethan wird, das ist im direkten Gegensatze zum Wesen der Liebe. Wie also ein Gegensatz den anderen austreibt, so treibt die Todsünde die Liebe aus. Wäre freilich die heilige Liebe ein durch menschliche Akte erworbener Zustand, so würde es nicht notwendig sein, daß sie ein entgegengesetzter Akt hinwegnehme; denn ein Akt steht direkt gegenüber nicht einem Zustande, sondern wieder einem Akte. Sowie also der Fortbestand eines Zustandes nicht erfordert den unaufhörlichen Fortbestand des betreffenden Aktes als einer Thätigkeit, so schließt auch ein Akt nicht immer den durch Akte erworbenen Zustand aus. Da aber die Liebe ein von Gott eingeflößter Zustand ist, so hängt er ab vom Einwirken Gottes, der sich im Einflößen und Bewahren der heiligen Liebe verhält wie die Sonne zur beleuchteten Luft. Wie das Beleuchtetsein der Luft nun gleich aufhören würde, wenn der beleuchtenden Kraft der Sonne von seiten der Luft ein Hindernis gesetzt würde, wodurch sie aufgehalten wlrd, so hört die Liebe gleich auf dadurch, daß dem Einflusse der Liebe von seiten Gottes durch die Seele ein Hindernis entgegengestellt wird. Jede Todsünde aber, welche ja die göttlichen Gebote verachtet, ist ein solches Hindernis; denn daraus daß der Mensch mit freiem Willen die Sünde vorzieht der Freundschaft mit Gott, welche erfordert, daß man die Gebote, den Willen Gottes beobachtet, folgt, daß man sogleich die heilige Liebe verliert. Deshalb sagt Augustin (8. sup. Gen. ad litt. 12.): „Ist Gott dem Menschen gegenwärtig, so wird letzterer sogleich erleuchtet; ist Gott abwesend, wird der Mensch sogleich finster; von Gott entfernt nicht der Raum, sondern die Abkehr des Willens.“
c) I. Der Mensch, welcher in der Vollendung der Liebe ist, fällt nicht auf einmal, ganz plötzlich, in eine Todsünde. Das geschieht erst, nachdem die Seele durch Nachlässigkeit nach und nach dazu vorbereitet worden ist; wonach die läßlichen Sünden eine Vorstufe zur Todsünde genannt werden. Oder Origenes will sagen, daß ein solcher Mensch nicht gleich in der Weise falle und alles Guten leer werde, daß er aus Bosheit sündige. II. Die heilige Liebe wird verloren: 1. durch thatsächliche Verachtung; und so hat Petrus die Liebe nicht verloren; — 2. wann etwas begangen wird aus Furcht oder aus irgend einer Leidenschaft, was der Liebe entgegengesetzt ist; und so hat Petrus die heilige Liebe verloren, sie aber unmittelbar darauf wieder erlangt. III. Ist oben beantwortet. IV. Nicht jede Unordnung in der Neigung mit Rücksicht auf das Zweckdienliche ist eine Todsünde; sondern jene, welche den Endzweck in Zeitliches setzt und so dem göttlichen Willen direkt widerstreitet. V. Die Liebe schließt die Einigung mit Gott selber ein, was beim Glauben und bei der Hoffnung nicht der Fall ist. Alle Todsünde aber ist eine Abkehr von Gott; also alle Todsünde ist gegen die heilige Liebe. Nicht aber jede Todsünde widerstreitet direkt dem Glauben und der Hoffnung; dies ist nur bei einzelnen Todsünden der Fall, die dann den Zustand des Glaubens und der Hoffnung hinwegnehmen. Die heilige Liebe also kann nie formlos bleiben; denn sie ist die letzte der Tugenden und wird also von keiner weiteren Tugend her vollendet.
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