Zweiter Artikel. Gott ist mehr zu lieben wie der Nächste.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. 1. Joh. 4. heißt es: „Wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht; wie soll der Gott lieben, den er nicht sieht!“ Jenes also ist danach liebwerter, was in höherem Grade gesehen wird; da das Erkennen das Princip des Liebens ist. Gott aber ist weniger zu sehen und demgemäß weniger für uns erkennbar wie der Nächste. Also ist der Nächste mehr wert unserer Liebe. II. Die Ähnlichkeit ist die Ursache der Liebe, nach Ekkli. 13.: „Jedes sinnbegabte Wesen liebt das ihm ähnliche.“ Größer aber ist die Ähnlichkeit zwischen Mensch und Mensch, wie zwischen Mensch und Gott. Also. III. Was die heilige Liebe im Nächsten liebt, ist Gott. Gott aber ist nicht größer in Sich selbst, wie im Nächsten. Also ist Er nicht mehr zu lieben in Sich wie im Nächsten. Auf der anderen Seite ist Jenes mehr zu lieben, um dessentwillen Anderes gehaßt werden soll. Die Nächsten aber sollen wir hassen, wenn sie uns von Gott abführen, nach Luk. 14.: „Wenn jemand zu mir kommt und nicht haßt Vater und Mutter, Gattin und Kinder, Brüder und Schwestern, der kann mein Schüler nicht sein.“ Gott also muß mehr geliebt werden wie der Nächste.
b) Ich antworte, eine jede Freundschaft berücksichtige Jenes an erster Stelle, worin das Gut, auf dessen Mitteilung sie sich gründet, mehr sich findet; wie z. B. die politische oder gesellschaftliche Freundschaft an erster Stelle auf den Fürsten sich richtet, von dem das ganze Gut des Gemeinbesten abhängig ist, so daß ihm am meisten Gehorsam und Treue geschuldet wird. Die Freundschaft der heiligen Liebe aber ist gegründet auf die Mitteilung der ewigen Seligkeit, die dem Wesen nach und notwendig in Gott sich findet als dem ersten Princip; in den anderen erst abgeleiteterweise, die derselben fähig sind. Also an erster Stelle muß Gott geliebt werden als die Ursache der Seligkeit; der Nächste als mit uns an der Seligkeit teilnehmend.
c) I. Einmal ist etwas Ursache für die Liebe als innere Richtschnur im zu liebenden Gegenstande; — und so ist das Gute die Ursache und Norm der Liebe; denn Jegliches wird geliebt, soweit es gut ist. Dann ist etwas Ursache der Liebe als Weg, um die Liebe zu erlangen; und so ist die Erkenntnis oder das Sehen Ursache der Liebe; — nicht als ob deshalb etwas liebwert sei, weil es gesehen wird, sondern weil wir durch das Sehen oder Erkennen zur Liebe gelangen. Also ist nicht deshalb etwas liebwerter, weil es leichter gesehen wird, sondern weil es zuerst uns begegnet, um geliebt zu werden. Und in dieser Weise geht der Beweis des Apostels von statten. Der Nächste nämlich tritt uns zuerst als Gegenstand der Liebe entgegen; denn „aus dem Sichtbaren steigen wir empor zur Erkenntnis des Unsichtbaren;“ und „aus dem, was der Geist kennt, lernt er, noch Ungekanntes zu lieben.“ (Gregor. hom. 11. in Evgl.) Wenn also jemand den Nächsten nicht liebt, so kann geschlossen werden, er liebe auch Gott nicht; nicht als ob der Nächste der Liebe werter sei, sondern weil er zuerst dem Geiste als zu liebender Gegenstand entgegentritt. Gott ist der Liebe werter, weil Er ein größeres Gut ist. II. Die Ähnlichkeit in uns mit Gott ist früher und sie ist die Ursache der Ähnlichkeit mit dem Nächsten. Also müssen wir danach Gott mehr lieben. III. Gott ist überall der Nämliche. Nicht aber nimmt der Nächste in gleicher Weise an der göttlichen Güte teil, wie diese in sich selber ist.
