Sechster Artikel. Unter den Nächsten ist der eine mehr zu lieben wie der andere.
a) Dagegen spricht: I. Augustin, der (l. c. c. 28.) da schreibt: „Alle Menschen sind gleichermaßen zu lieben. Da du aber nicht allen nützlich sein kannst, so mußt du hauptsächlich nach den Verhältnissen der Örtlichkeit, der Zeit oder ähnlicher Umstände zusehen, wer wie gleichsam durch das Schicksal mehr Anspruch hat auf deine Hilfe.“ Also muß man von den Nächsten nicht einen mehr lieben wie den anderen. II. Gott allein ist der Grund, um dessentwillen die Nächsten zu lieben sind. Wo also der eine nämliche Grund für die Liebe ist, da ist auch die Liebe eine gleiche. III. Lieben heißt jemandem Gutes wollen. Wir wollen aber allen Mitmenschen das gleiche Gut der ewigen Seligkeit. Also lieben wir sie alle gleichermaßen. Auf der anderen Seite muß ein jeder um so mehr geliebt werden, je mehr jemand sündigt, der ihn nicht liebt. Schwerer aber sündigt, der seine nächsten Verwandten nicht liebt, nach Lev. 20.: „Wer seinem Vater flucht oder seiner Mutter, soll sterben;“ was nicht rücksichtlich anderer Personen gilt.
b) Ich antworte, einige sagen, alle müßten, was die innere Hinneigung anbelangt, gleichmäßig geliebt werden; nicht aber soweit es auf die äußere Wirkung ankommt. Denn die äußeren Wohlthaten mühten wir mehr den nächsten Anverwandten zuwenden wie den anderen; während die innere Hinneigung überall die gleiche bleiben soll, auch rücksichtlich der Feinde. Das aber ist unvernünftigerweise gesagt. Denn nicht minder geregelt ist die Hinneigung der heiligen Liebe, die Hinneigung also der Gnade, wie das natürliche Begehren, die Hinneigung der Natur; da Beides von Gottes Weisheit kommt. Nun sehen wir aber im Bereiche der bloßen Natur, daß die Thätigkeit oder Bewegung eines jeden Dinges im entsprechenden Verhältnisse steht zur inneren Natur; wie die Erde z. B. eine größere Hinneigung der Schwere hat als das Wasser, weil es ihrer Natur gebührt, unter dem Wasser zu sein. Also ist auch die innere Gnade im gebührenden Verhältnisse zur äußeren Thätigkeit. Gegenüber denen also, welchen wir größere Wohlthaten erweisen müssen, sollen wir auch eine größere innere Hinneigung haben. Also auch gemäß der Hinneigung müssen wir die nächsten Anverwandten mehr lieben und nicht nur nach den äußeren Werten. Der Grund davon ist, daß das Princip der Liebe Gott ist und der liebende. Also je näher jemand diesen beiden Principien steht, desto mehr muß er geliebt werden. Denn die Ordnung in der Liebe hängt ab von der Beziehung zum Princip.
c) I. Von seiten des Gutes, das wir den Nächsten wünschen, ist die Liebe zu allen Menschen die gleiche; denn allen wünschen wir die ewige Seligkeit. Aber der Akt der Liebe kann mit Rücksicht auf den einen stärker sein und mit Rücksicht auf den anderen schwächer. Oder man kann sagen: Die einen werden geliebt und die anderen nicht, einzig mit Rücksicht auf zu erweisende äußere Wohlthaten, weil man nicht allen nützlich sein kann; und diese Ungleichheit meint Augustin. Die innere Hinneigung oder die Liebe des Wohlwollens muß sich auf alle gleichermaßen erstrecken. II. Manche unter den Nächsten stehen Gott näher auf Grund ihrer größeren Vollkommenheit; und diese sind aus heiliger Liebe mehr zu lieben als die Gott ferner stehen. Die Beziehung zu Gott also ist nicht überall die gleiche. III. Ist oben beantwortet.
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