Siebenter Artikel. Das Verhältnis der heiligen Liebe zu den Verwandten im vergleiche zum Verhältnisse der heiligen Liebe zu den Vollkommeneren.
a) Wir müssen mehr lieben die vollkommeneren wie die verwandten. Denn: I. Jene scheinen liebwerter zu sein, welche in keiner Weise Gegenstand des Hasses sein können. Die verwandten aber können manchmal (Luk. 14.) Gegenstand des Hasses sein; nicht jedoch die vollkommenen. II. Gott wird der Mensch durch die heilige Liebe ähnlich. Gott aber liebt mehr jene, die vollkommener sind. III. Die Freundschaft der heiligen Liebe beruht auf der Teilnahme an der ewigen Seligkeit. Auf Grund dessen aber stehen uns die mehr vollkommenen näher. Also müssen sie mehr geliebt werden. Auf der anderen Seite heißt es 1. Tim. 5.: „Wer für die Seinigen und zumal für die Mitglieder seiner Familie nicht Sorge trägt, ist schlimmer wie ein ungläubiger; denn er hat den Glauben verleugnet.“
b) Ich antworte, jede Thätigkeit entspreche dem Gegenstände sowohl wie dem thätigseienden. Vom Gegenstande hat sie den Wesenscharakter; vom thätigseienden die Kraft oder die Schwäche; wie die Bewegung ihren Wesenscharakter erhält vom Abschlusse, aber die Schnelle oder Langsamkeit derselben kommt von der Beschaffenheit des Beweglichen oder von der Beschaffenheit der bewegenden Kraft. So hat die Liebe also ihren Wesenscharakter vom Gegenstande; die Kraft oder Schwäche in ihrer Äußerung vom liebenden. Der Gegenstand der heiligen Liebe nun ist Gott; der liebende ist der Mensch. Die Verschiedenheit in den Wesensabstufungen dieser Liebe also ist zu nehmen nach den Beziehungen der Mitmenschen zu Gott, so daß wir jenem, der Gott näher steht, ein größeres Gut aus heiliger Liebe wünschen. Denn die ewige Seligkeit läßt verschiedene Grade und Stufen in der Teilnahme daran zu; und dies gehört zur heiligen Liede, daß sie die Gerechtigkeit Gottes mit will, wonach den vollkommeneren ein höherer Grad in der Seligkeit verliehen wird. Das gehört zum Wesenscharakter der heiligen Liebe. Denn es sind verschiedene Wesensabstufungen; insofern wir denen, die wir lieben, verschiedenes Gute wollen. Der Grad aber in der Stärke des Liebesaktes ist zu nehmen mit Rücksicht auf den Menschen, der da liebt; und danach liebt der Mensch mit größerer Stärke seine verwandten mit Bezug auf jenes Gut, behufs dessen er sie liebt, wie die vollkommeneren. Dann ist da noch der Unterschied, daß, wer einmal mit uns verwandt ist, dies immer im selben Grade bleibt; denn dies kommt vom natürlichen Ursprunge. Der Grad der Tugend aber, kraft dessen wir Gott nahen, kann größer oder geringer werden. Und somit kann ich aus heiliger Liebe wollen, daß mein unverwandter vollkommener werde; und demgemäß einen höheren Grad in der Seligkeit einnehme. Das Umgekehrte kann nicht eintreten, daß ich wollen kann, die vollkommeneren seien mir verwandt. Zudem lieben wir die verwandten mehr als die vollkommeneren, weil wir sie auf vielfache Art lieben. Denn zu den letzteren zieht uns nur die heilige Liebe der Freundschaft; zu den ersteren auch die fleischliche Verwandtschaft und andere Freundschaften. Da nun das Gute in den anderen Freundschaften, soweit sie ehrbar sind, Beziehung hat zum Guten, was die Grundlage der heiligen Liebe bildet, so ist die heilige Liebe Gebieterin für jede Thätigkeit der anderen Freundschaften; wie der Hauptzweck befiehlt den untergeordneten Zwecken. Dieses selber also, jemanden zu lieben, weil er blutsverwandt oder befreundet oder Mitbürger oder dergleichen ist, gehört dem Endzwecke der heiligen Liebe an; und kann somit ihrer Oberherrschaft unterliegen. Deshalb, mag die heilige Liebe als unmittelbares Princip betrachtet werden oder als befehlend in verschiedener Weise, lieben wir immer die verwandten oder mit uns in ähnlicher Weise verbundenen mehr wie die vollkommenen.
c) I. Nicht weil sie unsere Verwandten sind, sollen wir sie hassen, sondern weil sie uns hindern in der Vereinigung mit Gott; und darin sind sie unsere Feinde: „Des Menschen Feinde sind seine Familienglieder.“ II. Die heilige Liebe macht den Menschen Gott ähnlich, daß der Mensch sich so verhalte zum Seinigen wie Gott zu dem, was Ihm eigen ist. Denn Manches können wir aus heiliger Liebe wollen, weil es uns zukömmlich ist; was jedoch Gott nicht für Sich will, denn es kommt Ihm nicht zu, es zu wollen. (Vgl. I., II. Kap. 19, Art. 10.) III. Die heilige Liebe berücksichtigt nicht allein den Gegenstand, sondern auch die Beschaffenheit des liebenden.
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