Neunter Artikel. Die Gerechtigkeit beschäftigt sich nicht mit den inneren Leidenschaften.
a) Das Gegenteil scheint wahr zu sein. Denn: I. „Die moralische Tugend beschäftigt sich mit Ergötzlichkeiten und Traurigkeiten“ (2 Ethic. 3.), was doch nach I., II. Kap. 23, Art. 4 gewisse Leidenschaften sind. Die Gerechtigkeit aber ist eine moralische Tugend. II. Die Thätigkeiten im Verhältnisse zu einem anderen können erst geregelt werden, wenn die Leidenschaften geregelt sind; wie z. B. wegen der Begierlichkeiten der Ehebruch verübt wird. Also muß die Gerechtigkeit zuerst sich mit den Leidenschaften beschäftigen. III. Wie die „gesetzliche“ Gerechtigkeit in der Beziehung zu einem anderen besteht, so auch die sogenannte besondere Gerechtigkeit. Jene aber beschäftigt sich mit den Leidenschaften, sonst würde sie sich nicht auf alle Tugenden erstrecken. Also thut dies auch die letztgenannte. Auf der anderen Seite wird dies geleugnet von Aristoteles. (5 Ethic. 2.)
b) Ich antworte, diese Frage sei klar 1. auf Grund des Willens, wo die Gerechtigkeit ihren Sitz hat, dessen Thätigkeit nicht die Leidenschaft ist, da diese nur im sinnlichen Teile sich findet; — 2. auf Grund des Gegenstandes, denn die Gerechtigkeit schließt ein die Beziehung zum anderen; infolge der Leidenschaften aber haben wir nicht unmittelbar Beziehung zu einem anderen. Die Gerechtigkeit also beschäftigt sich nicht mit den Leidenschaften.
c) 1. Ergötzen und Trauer ist nicht der unmittelbare Gegenstand jeder moralischen Tugend, wie ja die Stärke z. B. mit der Furcht und Kühnheit zu thun hat. Jede moralische Tugend aber hat Beziehung zu Ergötzen und Trauer, wie zu einem sich ergebenden Zwecke. So bemerkt Aristoteles (7 Ethic 11.): „Ergötzen oder Trauer ist wie ein Endzweck, mit Rücksicht auf den wir das Eine als gut das Andere als schlecht bezeichnen.“ Und so gehört dies auch zur Gerechtigkeit; denn „jeglicher Gerechte freut sich an gerechter Thätigkeit.“ (1 Ethic. 8.) II. Die Thätigkeiten nach außen stehen in der Mitte zwischen den außenliegenden Dingen als dem Gegenstande und den Leidenschaften als ihren Principien. Da kann nun manchmal ein Mangel in dem einen sein, ohne daß sich ein Mangel im anderen findet; wie wenn jemand fremdes Gut an sich reißt, nicht aus Begierde zu haben, sondern aus bösem Willen, zu schädigen; oder umgekehrt wenn jemand die Begierde hat nach fremdem Gute, aber es nicht an sich reißen will. Die Regelung der Thätigkeiten also, insofern sie in den äußeren Dingen ihre Grenze finden, gehört der Gerechtigkeit an; die Regelung der nämlichen Thätigkeiten aber, insoweit sie in den Leidenschaften ihr Princip haben, wovon sie ausgehen, gehört den anderen moralischen Tugenden an. Das Ansichreißen fremden Gutes wird somit von der Gerechtigkeit gehindert, welche in den äußeren Dingen gleiches Maß will; die unmäßige Begierde zu besitzen aber wird als Leidenschaft gezügelt von der Freigebigkeit. Weil nun solche Thätigkeiten ihren Wesenscharakter erhalten, nicht von ihrem Princip, von woher sie ausgehen, sondern von den Gegenständen, ihrem Endzwecke; deshalb sind sie vielmehr Gegenstand der Gerechtigkeit wie anderer moralischer Tugenden. III. Das Gemeinbeste ist der Zweck der einzelnen Personen; nicht aber ist das Privatbeste einer Person der Zweck für die anderen. Deshalb kann sich die „gesetzliche“ Gerechtigkeit mit mehr Recht erstrecken auf die Regelung der inneren Leidenschaften, wodurch der Mensch ein nützliches Glied des Ganzen wird; wie die besondere Gerechtigkeit, welche sich nur auf das Beste einer anderen einzelnen Person bezieht. Jedoch bezieht sich auch die „gesetzliche“ Gerechtigkeit so recht eigentlich auf die anderen Tugenden mit Rücksicht auf ihre Thätigkeiten, insoweit das Gesetz vorschreibt „starke Werke zu thun und die dem mäßigen und milden Menschen entsprechen.“ (5 Ethic. 2.)
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