Elfter Artikel. Die Dispens im feierlichen Gelübde der Keuschheit.
a) Es kann da dispensiert werden. Denn: I. Das, was Gegenstand eines Gelübdes ist, darf kein Hindernis sein für ein besseres Gut. Es kann aber, wenn vom feierlichen Gelübde der Enthaltsamkeit dispensiert wird, dem Gemeinbesten ein großer Nutzen er wachsen; z. B. kann durch eine Heirat dem Vaterlande der Frieden wiedergegeben werden. Da also das Beste des Ganzen höher steht, wie das des einzelnen, so kann man vom genannten feierlichen Gelübde dispensieren. II. Die Gottesverehrung ist eine höhere Tugend wie die Keuschheit. Von einem Gelübde aber, das einen Akt der Gottesverehrung, z. B. ein Opfer, zum Gegenstande hat, kann dispensiert werden; also auch vom Gelübde der Keuschheit. III. Wie das Gelübde zu fasten der betreffenden Perfon Gefahr bringen kann, so auch das Gelübde der Keuschheit. Im ersteren aber kann man dispensieren, sobald eine Gefahr für die Person droht; also auch im letzteren. IV. Wie das Gelübde der Keuschheit, so ist in der feierlichen Profeßablegung eingeschlossen das Gelübde der Armut und des Gehorsams. Von den beiden letzteren aber kann dispensiert werden; wie dies z. B. bei jenen Ordensleuten geschieht, welche Bischöfe werden; — also auch von dem der Keuschheit. V. Auf der anderen Seite heißt es Ekkli. 26.: „Kein Abwägen kann gleichkommen der Seele des keuschen.“ VI. In der Dekretale cum ad monasterium heißt es: „Der Verzicht auf das Eigentum wie auch die Beobachtung der Keuschheit sind so sehr in jeder Ordensregel einbegriffen, daß der Papst selber darin nicht dispensieren kann.“
b) Ich antworte, im feierlichen Gelübde der Keuschheit sei dreierlei zu erwägen: 1. Die Materie, nämlich die Keuschheit; — 2. die beständige Dauer; — 3. die Feierlichkeit. Nun sagen einige, wegen der Keuschheit selber, die gelobet wird, sei eine Dispens nicht möglich; denn nichts könne gleichkommen ihrem Werte (l. c.). Und den Grund für diesen Wert finden sie darin, daß durch die Keuschheit der Mensch über den inneren (gleichsam häuslichen) Feind triumphiert oder weil dadurch der Mensch Christo ganz gleichförmig wird, nämlich in der Reinheit des Körpers und der Seele. Doch das kann nicht gelten. Denn die Güter der Seele, wie Betrachtung und Gebet, sind größer wie die Güter des Körpers und machen Christo gleichförmiger; und trotzdem wird dispensiert im Gelübde des Gebetes und der Betrachtung. Zudem dient nach dem Apostel (1. Kor. 7.) die jungfräuliche Keuschheit dem inneren Beschauen: „Die unverheiratete denkt an das, was Gott zugehört.“ Der Zweck aber steht höher wie das Zweckdienliche. Andere also leiteten die Unmöglichkeit, im feierlichen Gelübde der Keuschheit zu dispensieren, von der beständigen Dauer und der umfassenden Allgemeinheit desselben ab. Sie sagen, das Gelübde der Keuschheit könne nur beiseitegelassen werden auf Grund dessen, was zu ihm in allseitigem Gegensatze stehe; und dies sei in keinem Gelübde erlaubt. Doch das ist durchaus falsch. Denn wie dem Gelübde der Keuschheit entgegensteht fleischliche Verbindung, so steht das Fleischessen dem Gelübde entgegen, nicht Fleisch zu essen. Und doch kann in solchen Gelübden wie das letztere dispensiert werden. Und deshalb schien manchen es annehmbar, es könne auch, wenn das Beste des Ganzen es so erfordert oder ein Nutzen für das Ganze daraus folgt, (wie in I.) im Gelübde der Keuschheit dispensiert werden. Dem steh aber die Dekretale sub II. entgegen. Es muß daher zuvörderst erwogen werden, daß, was einmal Gott geweiht ist, zu anderer Verwendung nicht mehr gelangen kann. Kein Kirchenobere z. B. kann machen, daß ein Kelch oder Ähnliches seine Weihe verliere. Also kann auch kein Kirchenobere weit weniger machen, daß ein Mensch, der einmal Gott geweiht wurde, solange er lebt, aufhöre, Gott geweiht zu sein. Die Feierlichkeit des Gelübdes besteht in einer gewissen Weihe dessen, der gelobt. Also kann kein Kirchenobere machen, daß ein solcher aufhöre, Gott geweiht zu sein; z. B. daß ein Priester aufhöre, Priester zu sein, wenn er auch dem Priester verbieten kan für gewisse Zeit seine Weihe im Dienste des Altares praktisch auszuüben. Und so kann er auch nicht machen, daß eine Ordensperson nach der Profeß nicht mehr Ordensperson sei; mögen auch einige Rechtsgelehrte aus Unkenntnis das Gegenteil lehren. Es ist nun also zu erwägen, ob denn die Keuschheit wesentlich mit dem verbunden sei, wozu das Gelübde ein feierliches wird. Es wird nämlich das Gelübde ein feierliches: I. um dem Stande der Kultusdiener anzugehören und 2. um dem Stande der Vollkommenheit anzugehören. Ist also Keuschheit nicht mit dem Wesen dieser beiden Stände verknüpft, so ist sie im selben Maße vom feierlichen Gelübde als solchem trennbar. Mit dem geistlichen Stande nun ist die Keuschheit nicht wesentlich verbunden, sonder einzig durch rein kirchliche Anordnung. Also kann die Kirche dispensieren vom Gelübde der Keuschheit, das ein feierliches geworden ist durch die höhere Weihen. Mit dem Wesen des Standes der Vollkommenheit aber, in den man durch die Profeß eintritt, ist die Keuschheit thatsächlich verbünden. Denn mit diesem Stande ist es wesentlich gegeben, daß der Mensch der Welt entsagt und sich ganz und gar dem Dienste Gottes widmet; das aber kann sich nicht vertragen mit der Ehe, wo die Notwendigkeit gegeben ist, für Frau und Kinder und was damit zusammenhängt, zu sorgen. Deshalb sagt der Apostel (1 Kor. 7.): „Wer eine Gattin hat, der trägt Sorge für das, was der Welt gehört, wie er der Gattin gefällt und ist somit geteilt. Daher ist auch der Name „Mönch“ monachus, μόνος, von der Einheit hergenommen, um diese Teilung des Herzens zwischen Gott und der Welt zurückzuweisen. Im Gelübde, welches durch die Ordensprofeß ein feierliches geworden ist, kann die Kirche also nicht dispensieren; und den Grund giebt die genannte Dekretale an: „weil die Keuschheit mit der Ordensregel wesentlich verbunden ist.“
c) I. Menschlichen Gefahren muß man begegnen durch den Menschen zugängliche Mittel; nicht durch die Verwendung göttlicher Dinge für rein menschliche Zwecke. Die Profeßordensleute aber sind der Welt tot und leben Gott. Also darf man sie nicht zum irdischen Leben zurückrufen aus Anlaß von irgend etwas. II. Im Gelübde der Keuschheit für gewisse Zeit kann man dispensieren, wie auch im Gelübde, zu gewisser Zeit zu beten und zu fasten. Nicht der Akt der Keuschheit aber ist die Ursache, daß man beim Gelübde der Profeßablegung von der Keuschheit nicht dispensieren kann; sondern weil letztere durch die Profeß anfängt, zur Tugend der Gottesverehrung zu gehören. III. Die Speise hat zum unmittelbaren Zwecke die Erhaltung der Person; das Enthalten davon also kann unmittelbar eine Gefahr für die Person zur Folge haben. Das fleischliche Zusammenleben aber hat nicht unmittelbar zum Znecke die Erhaltung der Person, sondern die der Gattung. Also ist nicht eine Gefahr für die Person die unmittelbare Folge des Enthaltens vom fleischlichen Zusammenleben. Erwächst aus diesem Enthalten nebensächlich eine Gefahr für die Person, so giebt es andere Heilmittel, wie Fasten und Ähnliches, um dieser Gefahr zu begegnen. IV. Der zum Bischof ernannte Ordensmann wird nicht vom Gelübde der Armut dispensiert; denn er darf nichts ihm persönlich Eigenes besitzen, sondern nur als Verwalter der kirchlichen Güter. Ebenso findet keine Dispens vom Gelübde des Gehorsams statt. Nur der äußere Umstand, daß er keinen Oberen hat, bewirkt, daß er nicht zu gehorchen braucht. Der nämliche Fall tritt beim Vorsteher eines Klosters ein. V. und VI. Die Stelle des Ekklesiastikus ist davon zu verstehen, daß weder die Fruchtbarkeit des Fleisches noch irgend ein körperliches Gut mit dem Vorzuge der Keuschheit zu vergleichen sei, welche nach Augustin (de S. Virg. c. 7 et 8.) zu den Gütern der Seele zählt; deshalb heißt es da „mit einer Seele, die keusch ist“.
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