Zweiter Artikel. Die Stärke ist eine eigene besondere Tugend.
a) Dies scheint nicht. Denn: I. Sap. 8. heißt es: „Die Weisheit wird lehren Nüchternheit und Klugheit, Mäßigkeit und Tugend;“ wo „Tugend“ für „Stärke“ steht. Also ist jede Tugend Stärke. II. Ambrosius sagt (1. de offic. 39.): „Nicht zu verachten ist Stärke der Seele, welche für sich allein den Schmuck aller anderen Tugenden und deren Urteile verteidigt; und welche in unversöhnlichem Streite Laster bekämpft, unermüdlich in den Arbeiten, kräftig in den Gefahr, streng gegen die Vergnügungen, hart vor Verlockungen; die den Geiz flieht wie einen weibischen Flecken“; … und er sagt dann dasselbe rücksichtlich der anderen Laster im einzelnen. Dies aber kann keiner einzelnen speciellen Tugend zukommen, sondern es ist eine Eigenheit aller Tugenden. III. Der Name „Stärke“ kommt vom „Starr-“ „Festsein“. Fest muß aber jede Tugend sein. Also ist die Stärke jede Tugend. Auf der anderen Seite zählt sie Gregor (22. moral. 1.) neben den anderen Tugenden auf.
b) Ich antworte, die Stärke schließe einmal schlechthin eine gewisse Festigkeit der Seele ein. Und danach ist sie eine allgemeine Tugend, d. h. eine Eigenheit in jeder Tugend; denn jede Tugend muß fest und unverrückbar wirken. (2 Ethic. 4.) Dann wird die Tugend der Stärke als eine eigene besondere Tugend genommen, insoweit sie Ausdauer und Kraft verleiht inmitten von Schwierigkeiten und Hindernissen; wo es nämlich schwer ist, fest zu sein, so daß Cicero sagt (2. de Inv.), „die Stärke sei die wohl überlegte Übernahme von Gefahren und das geduldige Ausharren bei Mühen und Arbeiten.“ Danach ist also die Stärke eine specielle eigene Tugend.
c) I. Der Name „Tugend“ bezieht sich auf das „Letzte, Äußerste im Vermögen,“ auf das ultimum potentiae nach Aristoteles (1. de coelo). Nun wird als natürliches Vermögen bezeichnet: 1. jenes, wonach jegliches Ding den zerstörenden Einflüssen widerstehen kann; 2. jenes, wonach etwas ein Princip des Thätigseins ist. Weil nun diese letztere Auffassung des Vermögens als die allgemeinere erscheint, so ist der Name „Tugend“ als das Letzte, Äußerste eines Vermögens, welches Princip der Thätigkeit ist, ein gemeinsamer; und danach ist Tugend oder Kraft nichts Anderes wie ein Zustand, vermittelst dessen jemand gut thätig sein kann. Nach der ersten Auffassung aber, welche eine mehr besondere oder beschränkte ist, wird „Tugend“ als etwas Besonderes, also als besondere Tugend aufgefaßt und ist eben in dieser Weise aufgefaßt die der Stärke, kraft deren jemand fest dasteht gegen verderbliche Ginflüsse. II. Ambrosius nimmt die Stärke im weiten Sinne für Festigkeit gegen Alles, was bekämpft werden muß. Jedoch auch als besondere Tugend steht die Stärke zur Seite im Kampfe gegen alle Laster. Denn wer fest aushält trotz der umgebenden großen Schwierigkeiten, wird auch geeignet sein, Anderem zu widerstehen, was minder schwer erscheint. III. Dies deutet auf die Stärke nach der ersten Auffassung hin.
