Vierter Artikel. Die Stärke festigt ihrem eigentlichen Wesen nach gegen die Todesgefahr.
a) Die Stärke richtet sich nicht einzig auf die Todesgefahr. Denn: I. „Die Stärke ist“ nach Augustin (de morib. Eccl. 15.) „eine Liebe, welche leicht Alles um dessentwillen erträgt, was geliebt wird.“ Und 6. musica 15.: „Die Stärke ist eine Zuneigung, welche keine Mühseligkeit, selbst nicht den Tod fürchtet.“ Also richtet die Stärke sich nicht allein gegen die Gefahren des Todes, sondern gegen alle Beschwernisse. II. Andere Befürchtungen noch giebt es wie die vor dem Tode. Gegenüber diesen aber, um sie auf die rechte Mitte zurückzuführen, gäbe es dann keine Tugend; da doch alle Leidenschaften eine entsprechende Tugend als Richtschnur haben. Also beschäftigt sich die Stärke auch mit anderen Befürchtungen. III. Für die äußersten Fälle giebt es keine Tugend, denn da giebt es nichts zu regeln. Die Furcht vor dem Tode aber ist die äußerste, denn sie ist die größte. (3 Ethic. 6.) Also beschäftigt sich mit ihr keine Tugend. Auf der anderen Seite sagt Andronicus: „Die Stärke ist eine Tugend in der Abwehrkraft (irascibilis), die nicht leicht in Staunen gerät wegen der Befürchtungen, die mit dem Tode sich beschäftigen.“
b) Ich antworte, vermittelst der Stärke ziehe sich der Mensch vom Guten nicht zurück aus Furcht vor einem körperlichen Übel. Es muß aber das der Vernunft entsprechende Gute trotz alles entgegenstehenden Übels deshalb festgehalten werden, weil kein körperliches Gut gleichkommt dem Gute der Vernunft. Also wird Seelenstärke jene Tugend genannt, welche den Willen im vernunftgemäßen Guten festhält gegen die größten Übel. Denn wer feststeht gegen die größten Übel, der steht folgerichtig auch fest gegen die geringeren; aber nicht umgekehrt. Und zudem geht es die Tugend an, das Letzte, Äußerste zu berücksichtigen. Nun ist das erschrecklichste aller körperlichen Übel der Tod, denn derselbe nimmt alles körperliche Gute fort; weshalb Augustin schreibt (de morib. Eccl. 22.): „Das Band des Körpers quält die Seele mit Mühen und Schmerz, damit es nicht erschüttert und gestört werde; damit es aber nicht vollständig aufgelöst und hinweggenommen werde, quält es sie mit dem Schrecken vor dem Tode.“ Also beschäftigt sich die Tugend der Stärke so recht eigentlich und wie mit ihrem wesentlichen Gegenstande mit der Furcht vor dem Tode.
c) I. Die Stärke festigt allerdings gegen alles Üble. Schlechthin „stark“ aber wird jemand genannt, der auch den größten Übeln ruhig gegenübertritt. II. Da die Furcht aus der Liebe entspringt, so mäßigt jede Tugend, welche für die Liebe zu einzelnen Gütern die regelnde Richtschnur ist, auch Furcht vor dem entgegengesetzten Übel; wie die Freigebigkeit, welche die Liebe zum Gelde mäßigt, auch die Furcht regelt, es zu verlieren; dasselbe gilt von den anderen Tugenden. Die Liebe zum eigenen Leben aber ist naturgemäß; also mußte eine besondere Tugend sein, welche die Furcht vor dem Tode mäßigt. III. Das Äußerste in der Tugend ist jenes Übermaß, welches von der geraden Vernunft gebilligt wird. Wenn einer also sich der Vernunft gemäß den größten Gefahren aussetzt, so ist dies der Tugend nicht entgegen.
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