9.
Da wendeten sich die Henker zu seinem rechten Fuß und schnitten ihm zuerst die große Zehe ab. Er öffnete den Mund und sprach: „Ehre sei Dir, o Gott, der Du einen Leib anzogst, mit der Lanze durchbohrt wurdest und dessen Fuß mit Blut von dem Blut und Wasser seiner Seite gefärbt wurde. Auch ich, Dein Diener, nehme freudig auf mich, im Leibe, der Wohnung der Seele, zu leiden und das Blut meines Körpers durch das Abschneiden meiner Finger und Zehen zu vergießen." — Sie schnitten ihm die nächste Zehe ab und er sprach: „Das ist der größte Tag aller meiner Tage von Jugend an bis jetzt. Denn bevor ich in diesen Kampf eintrat, lobte ich (Gott) nur so äußerlich, da ich in irdische Gesinnung und trügerischen Besitz versunken war. Wie oft ließ ich mich durch Weltliebe im Gebete hindern. Und auch wenn ich betete, war ich im Gebete S. 159 dort und nicht dort. Mein Leib war in der Kirche; aber mein Geist erstieg Berge und stieg in Täler hinab. Heute aber habe ich mein Gesicht von der Erde und allem, was darin ist, abgewendet und strebe, nach der Welt, die vor mir liegt, zu gehen, und freudigst rufe ich mit jedem Glied, das mir abgeschnitten wird, dem Lob, der mich des Leidens gewürdigt hat." — Da schnitten sie ihm die dritte Zehe ab und warfen sie vor ihn hin. Als er sie sah, lachte er und sprach: „Folge auch du, dritte Zehe, deinen Genossinnen und sei unbesorgt. Denn wie Weizen, der in die Erde fällt und im Frühling seine Genossen hervorbringt, so auch verbindest du dich am Tage der Auferstehung in einem Augenblick mit deinen Genossinnen." — Da schnitt man ihm die vierte Zehe ab und er sprach zu sich selbst1: „Warum bist du betrübt, meine Seele, und bekümmert? Hoffe auf Gott. Denn ich werde ihn ferner als meinen Erlöser und Gott bekennen." — Da schnitten sie ihm die fünfte Zehe ab und er begann zu sprechen: „Jetzt beginne ich zu reden vor dem Herrn, der an mir sein Wohlgefallen hat und mich dieses Kampfes gewürdigt, dessengleichen ich nicht sah, und mich stärkte, in ihm zu bestehen." — Da wendeten sie sich zu seinem linken Fuß und schnitten ihm die kleine Zehe ab. Er sprach: „Kleine Zehe, du bist nicht klein. Denn das Verhältnis von klein und groß ist dasselbe. Und wenn kein Haar vom Haupte verloren geht, um wieviel weniger wirst du unter der Zahl deiner Genossinnen vergessen." — Da schnitt man ihm die nächste Zehe ab und er sprach freudig: „Zerstöret dieses baufällige Haus; denn ein größeres und herrlicheres als dieses wird erbaut werden." — Da schnitt man ihm die nächste Zehe ab und er sprach: „Wisset ihr nicht, daß die Steineiche (?), so sehr sie verletzt wird, ausdauert und es nicht fühlt?" — Man schnitt ihm die vierte Zehe ab und er sprach: „Stärke mich, starker Gott, auf den ich vertraue." — Man schnitt ihm die fünfte ab und er erwachte wie aus dem Schlaf und rief: „Richte, o Gott, mein Gericht und räche meine Rache an dem erbarmungslosen Volke. Denn siehe, zwanzigmal wurde ich S. 160 getötet und die reißenden Wölfe schonen nicht Dein Gebilde"2. Da sprachen die Jünglinge weinend zu den Greisen: „Geschah solches in euren Tagen oder in den Tagen eurer Väter, daß ein Zeuge solche Qualen erduldete?" Mit noch größerem Mute sprach er zu den Henkern: „Was steht ihr müßig? Fället den Baum und seine Äste. Nicht mögen eure Augen schonen. Denn mein Herz frohlockt im Herrn und meine Seele ist zu dem erhoben, der die Demütigen liebt."
