55.
In solcher Weise also gingen fürwahr auch die Feinde Christi in die Irre, und sie sind in eine abscheuliche Häresie gefallen. Denn hätten sie die Person, die Sache und die Zeit beim Apostelwort erkannt, dann hätten die Unverständigen nicht Menschliches auf die Gottheit übertragen und so schwer gefrevelt. Dies kann man sehen, wenn man den Anfang der Stelle richtig nimmt. Es sagt nämlich der Apostel: "Nachdem Gott vielgeteilt und auf mancherlei Weise in den Propheten zu den Vätern gesprochen, hat er in diesen letzten Tagen zu uns im Sohne geredet"1. Dann sagt er kurz hernach: "Nachdem er durch sich selbst uns von den Sünden gereinigt hatte, hat er sich gesetzt zur Rechten der Majestät in der Höhe, um so erhabener geworden als die Engel, je ausgezeichneter der Name ist, den er vor ihnen ererbt hat"2. An die Zeit also, in der er zu uns im Sohne gesprochen hat, und auch die Reinigung von den Sünden vollzogen wurde, erinnert das Apostelwort. Wann nun hat er zu uns im Sohne geredet? Und wann vollzog sich die Reinigung von den Sünden? Und wann wurde er Mensch, wenn nicht nach den Propheten S. 98 "in den letzten Tagen"? Da hierauf von seinem Heilswerke an uns die Rede ist, und er von den letzten Zeiten spricht, so hat er damit passend daran erinnert, daß Gott zu den früheren Zeiten den Menschen gegenüber nicht geschwiegen habe. Er redete nämlich zu ihnen durch die Propheten. Und da auch die Propheten dienten, und durch Engel das Gesetz verkündet wurde, und der Sohn erschien und kam, um zu dienen, so mußte er die Worte hinzufügen: "um so vorzüglicher geworden als die Engel", womit er zeigen wollte, daß der Dienst des Sohnes um soviel den Dienst der Knechte überragt habe, als der Sohn vom Knecht abstehe. Indem also der Apostel scheidet zwischen dem alten und dem neuen Dienst, schreibt er freimütig an die Juden die Worte: "um soviel erhabener geworden als die Engel". Deshalb hat er überhaupt auch hier nicht vergleichungsweise gesagt "größer" oder "geehrter", damit nicht einer jene sich vorstelle, als wären sie gleichen Geschlechtes mit ihm, sondern er hat "vorzüglicher" gesagt, um den Unterschied der Natur des Sohnes den gewordenen Dingen gegenüber zu erkennen zu geben. Und hiefür liefern uns den Beweis die göttlichen Schriften, indem David singt: "Vorzüglicher ist ein Tag in Deinen Gehöften als tausende"3 und Salomon ausruft: "Nehmet Zucht, und nicht Silber, und Erkenntnis ziehet erprobtem Golde vor. Denn vorzüglicher ist Weisheit als kostbare Steine und jedes geschätzte Ding ist ihrer nicht würdig"4. Sind denn nicht die Weisheit und die Steine aus der Erde ihrem Wesen und ihrer Natur nach voneinander verschieden? Und welche Verwandtschaft besteht zwischen den himmlischen Gehöften und irdischen Wohnungen? Oder welche Ähnlichkeit besteht zwischen dem Ewigen und Geistigen und dem Augenblicklichen und Sterblichen? Denn gerade das sagt auch Isaias: "So spricht der Herr zu den Eunuchen: "Allen, welche meine Sabbate beobachten und wählen, was ich will, und die an meinem Bunde festhalten, werde ich in meinem Hause und in meiner Mauer einen angesehenen Platz anweisen. S. 99 Ich werde ihnen einen ewigen Namen geben, der vorzüglicher ist als "Söhne" und "Töchter" und nicht vergehen wird"5. Ebensowenig besteht eine Verwandtschaft zwischen dem Sohne und den Engeln. Wenn es aber keine Verwandtschaft gibt, so ist das "vorzüglicher" auch nicht vergleichsweise, sondern der Unterscheidung wegen gesagt, wegen der Verschiedenheit seiner Natur von der Natur jener. Und auch der Apostel versteht das "vorzüglicher", wo er es erklärt, von nichts anderem als vom Unterschied zwischen dem Sohne und den entstandenen Wesen, indem er sagt, daß dieser Sohn sei, die andern aber dienende Wesen. Und dieser sitzt als Sohn zur Rechten des Vaters, die andern aber stehen als dienende Wesen an seiner Seite und werden gesandt und dienen ihm.
