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So etwas zu behaupten, übersteigt das Maß aller Gottlosigkeit. Das ist ja unter allen Häresien das schlimmste Gift. Sie behaupten, weil sie einen freien Willen besitzen, hätten sie darüber hinaus in keiner Weise Gott nötig. Kennen sie denn das Wort der Schrift nicht: „Was hast du, was du nicht empfangen hättest? Wenn du es aber empfangen hast, was rühmst du dich, als ob du es nicht empfangen hättest?“ 1 Sie statten Gott wärmsten Dank ab, weil er ihnen den freien Willen verliehen hat, und gleichzeitig benutzen sie diesen, um sich gegen Gott zu empören. Auch wir erkennen bereitwillig an, daß wir von Gott einen freien Willen erhalten haben, aber mit der Einschränkung, daß wir dem göttlichen Spender immer wieder zu Dank verpflichtet sind. 2 Wir wissen, daß wir nichts sind, wenn er nicht selbst in uns bewahrt, was er uns gegeben hat. Sagt doch der Apostel: „Nicht auf den kommt es an, der will und der läuft, sondern auf den erbarmenden Gott.“ 3 Das Wollen und das Laufen ist meine Sache. Aber das Meinige wird ohne ständigen Beistand Gottes nicht mein bleiben. Denn es schreibt der gleiche Apostel: „Gott ist es, der in uns sowohl das Wollen als das Vollbringen bewirkt.“ 4 Und der Heiland spricht im Evangelium: „Mein Vater wirkt bis jetzt, und auch ich wirke.“ 5 Dauernd spendet, dauernd schenkt Gott seine Gnade. Es genügt mir nicht, daß er sie mir einmal gibt, sondern er muß sie mir ständig geben. Ich bitte, daß ich die Gnade empfange. Habe ich sie erhalten, so bitte ich von neuem. Mein Verlangen nach den Wohltaten Gottes ist unersättlich. Er hört nicht S. b214 auf, zu geben, und ich kann nicht genug in Empfang nehmen. Je mehr ich trinke, desto größer wird mein Durst. Habe ich doch beim Psalmisten gelesen: „Kostet und sehet, wie süß der Herr ist.“ 6 Alles, was wir Gutes haben, ist nur ein Kosten vom Herrn. Wenn ich glaube, auf dem Tugendgipfel angelangt zu sein, so ist dies erst der Anfang. Denn der Anfang der Weisheit ist die Furcht des Herrn, 7 eine Furcht, welche durch die Liebe ausgelöscht und zerstört wird. 8 Die einzige Vollkommenheit der Menschen besteht darin, daß sie sich ihrer Unvollkommenheit bewußt werden. Heißt es doch: „Und wenn ihr alles getan habt, so saget: Wir sind unnütze Knechte; nur, was wir tun mußten, haben wir getan.“ 9 Wenn nun schon jeder als unnütz anzusehen ist, der alles getan hat, was gilt dann von dem, der es nicht tun konnte? Deshalb sagt der Apostel, er habe nur zum Teil empfangen und ergriffen; es bedeute noch keine Vollkommenheit, das Vergangene zu vergessen und sich um das Zukünftige zu bemühen. 10 Wer aber immer das Vergangene vergißt und nach dem Zukünftigen verlangt, der zeigt, daß er mit dem gegenwärtigen Zustande nicht zufrieden ist.
Wenn sie aber immer und immer wieder uns vorwerfen, wir zerstörten die Willensfreiheit, dann sage ich hiergegen — und das trifft auch sie —: Der vernichtet die Freiheit des Willens, der mit ihm Mißbrauch treibt gegen seinen göttlichen Wohltäter. Ja, wer zerstört den freien Willen? Etwa der, welcher Gott ständig dankt und jeden Tropfen in seinem Bache auf die Quelle zurückführt, oder jener, der spricht: „Gehe fort von mir; denn ich bin rein, 11 ich habe Dich nicht nötig? Du hast mir ein für allemal den freien Willen gegeben, damit ich tue, was ich will. Was mischst Du Dich nun immer ein, als ob ich nichts tun könnte, wenn Du nicht das Werk in mir durch Deine Gnade vollendest?“ Du S. b215 treibst Mißbrauch mit dem Worte Gnade. Du willst sie der natürlichen Ausstattung des Menschen gleichsetzen, um sie nicht auf die göttliche Hilfe bei den einzelnen Handlungen zu beziehen. Du hast Furcht, sonst des freien Willens verlustig zu gehen. Während du aber Gottes Mitwirkung ablehnst, suchst du Hilfe bei den Menschen.
