Erster Artikel. Die heilige Liebe erstreckt sich nicht nur auf Gott, sondern auch auf den Nächsten.
a.) Dies muß geleugnet werden. Denn: I. In gleichem Maße schulden wir Gott Liebe wie Furcht, nach Deut. 10.: „Und nun Israel, was fordert der Herr, dein Gott, Anderes von dir, als daß du Ihn fürchtest … und liebest.“ Anders geartet aber ist die Furcht, die einen Menschen zum Gegenstande hat, wie jene, die auf Gott sich richtet; denn jene ist die Menschenfurcht, diese die knechtische oder kindliche. Also richtet sich auch nicht die eine nämliche heilige Liebe auf Gott zugleich und auf den Nächsten. II. „Geliebt werden ist dasselbe, wie geehrt werden; sagt Aristoteles. (8 Ethic. 8.) Nicht die gleiche Ehre aber gebührt Gott wie dem Menschen. Also steht auch nicht die gleiche Liebe da in Frage. III. „Die Hoffnung erzeugt die Liebe,“ sagt die Glosse zu Matth. 1, 2. Hoffen aber auf Gott ist in der Weise gut, daß jene getadelt werden, die auf einen Menschen hoffen, nach Jerem 17.: „Verflucht, der auf einen Menschen seine Hoffnung setzt.“ Auf der anderen Seite heißt es 1. Joh. 4.: „Dieses Gebot haben wir von Gott, daß wer Gott liebt auch seinen Bruder liebe.“
b) Ich antworte, die Zustände lassen insofern Verschiedenheit untereinander zu, daß sie mit dem Gattungsunterschiede in den Thätigleiten auf gleicher Stufe stehen bleiben. Denn jede Thätigkeit, die zu ein und derselben Gattung gehört, hat auch zum nächsten Princip ein und denselben Zustand. Die Gattung der Thätigkeit aber kommt vom Gegenstande her gemäß dem formalen Gesichtspunkte desselben. Also ist es dem Wesenscharakter nach ein und dieselbe Thätigkeit, welche auf den formalen Gesichtspunkt im Gegenstande geht und welche auf einen Gegenstand unter diesem formalen Gesichtspunkte sich richtet. So ist es ein und dasselbe Sehen der Gattung nach, welches auf das Licht geht und vermittelst dessen die Farbe gesehen wird unter dem formalen Gesichtspunkte des Lichtes. Nun ist der formale Gesichtspunkt der Liebe zum Nächsten Gott. Dies nämlich sollen wir im Nächsten lieben, daß er in Gott ist. Also ist es dem inneren Wesenscharakter nach ein und derselbe Akt, kraft dessen Gott und kraft dessen der Nächste geliebt wird. Somit erstreckt sich auch der Zustand der heiligen Liebe nicht nur auf Gott, sondern auch auf die Zuneigung zum Nächsten.
c) I. Man kann den Nächsten einmal lieben oder fürchten auf Grund dessen, was von diesem selbst kommt und ihm in dieser Weise eigen ist; wie wenn jemand einen Tyrannen fürchtet wegen dessen Grausamkeit, oder ihn liebt, weil er von ihm Geld zu gewinnen hofft. Und solche Furcht und Liebe ist die Menschenfurcht und ist unterschieden von der Furcht und Liebe Gottes. Dann kann man den Nächsten fürchten wegen dessen, was Gott ihm mitgeteilt hat; wie wenn man die weltliche Gewalt, kraft deren die Bösen gestraft werden, fürchtet und sie liebt auf Grund der Gerechtigkeit; und so fällt die Gottesfurcht und Gottesliebe zusammen mit der Furcht vor den Menschen und mit der Liebe zu ihnen. II. Die Liebe bezieht sich auf das Gute im allgemeinen; die Ehre richtet sich auf das dem Geehrten eigene Gute, denn sie wird jemandem erwiesen als Zeugnis der ihm eigenen Tüchtigkeit. Die Liebe also wird keine verschiedene wegen des verschiedenen Umfanges des Guten in den Verschiedenen, wenn die Liebe nur immer auf das Gute überhaupt oder das gemeinsame Gute bezogen wird. Die Ehre aber wird eine verschiedene gemäß den Vorzügen, die dem einzelnen eigen sind. Mit der gleichen Liebe also lieben wir den Menschen und Gott und zwar alle Menschen, soweit sie alle Beziehung haben zum gemeinsamen Guten, zu Gott. Verschieden aber ist die Ehre, die wir den einzelnen erweisen gemäß der einem jeden der selben zukommenden eigenen Tüchtigkeit. Und deshalb erweisen wir Gott die Ehre der Anbetung, weil Er ganz allein und in einziger Weise erhaben dasteht über alle andere Kraft. III. Getadelt werden jene, die auf einen Menschen hoffen als auf den Haupturheber ihres Heiles; nicht aber die auf ihn vertrauen als auf ein Werkzeug in der Hand Gottes. Ebenso wäre tadelnswert, der einen Menschen liebte wie seinen Endzweck; nicht aber wer ihn auf Grund Gottes liebt.
